Milano Criminale: Roman (German Edition)
verlässt, sagt sie ihren Eltern, sie ginge in ein Geschäft in der Via Luini, um die neuen Bezüge für die Stühle im Esszimmer auszusuchen, dann zur Kosmetikerin in der Via Dante und in eine Parfümerie auf dem Corso Vercelli.«
»Und?«
»Sie wollte gar nicht in die Cattolica! Das mit den Jura-Unterlagen für die Freundin ist völliger Humbug!«
»Woher willst du das wissen?«
Basile bleckt grinsend die gelbe Zahnreihe.
»Was stellst du nur für Fragen, Junge? Ich bin Reporter, ich prüfe alles nach. Ich habe diese Freundin von Sandra getroffen, die mir bestätigt hat, dass sie sie um Unterlagen gebeten hatte, aber das war schon einen Monat her. Wirklich. Niemand wusste, dass sie an diesem Tag bei der Cattolica vorbeigehen würde, weil es schlicht keinen Grund dafür gab.«
»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
»Vorausgesetzt, dass niemand wissen konnte, dass sie bei der Universität vorbeigehen würde – wo sie wahrscheinlich nur kurz auf Toilette wollte und sich ein bisschen frisch machen, da sie den Ort ja gut kannte –, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Jemand ist ihr von draußen gefolgt, was mir aber unwahrscheinlich vorkommt angesichts dieser geschlossenen und geschützten Gemeinschaft; das wäre ganz bestimmt aufgefallen. Die zweite, die mir realistischer erscheint, ist, dass jemand aus dem Institut sie ermordet hat, einer, der perfekt integriert ist, den niemand bemerkt hat, weil es normal war, dass er sich in diesem Moment dort befand.«
»Du denkst also an eine spontane Gewalttat? Sandra war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ob sie oder eine andere, hätte keinen Unterschied gemacht?«
Der Journalist zuckt mit den Schultern und leert sein Glas.
»Sicher ist nur«, erwidert er, »dass in dieser Toilette zwischen elf und ein Uhr ein Mörder war, der auf sie wartete.«
Santi steht auf. Er drückt dem Journalisten die Hand.
»Noch einen Fernet?«
»Klar, du zahlst ja.«
5
Antonio zählt die Tage. Nur noch zwei, dann kann er endlich mit seinen beiden Frauen Strand und Meer genießen. Allein der Gedanke daran tröstet ihn, als er sein Büro betritt und eine Akte auf dem Schreibtisch liegen sieht: die Obduktion von Sandras Leichnam.
»Ganz so blöd ist Piazza also doch nicht«, sagt er sich und beginnt darin zu blättern. Beim Lesen verdüstert sich seine Miene sichtlich. Der Bericht zeichnet eine wesentlich grausamere Realität, als sie bisher gedacht haben. Dreiunddreißig Stiche mit einer mindestens fünfzehn Zentimeter langen Klinge, solche Messer benutzen Metzger beim Schlachten. Das vor allem jagt Santi einen kalten Schauder über den Rücken.
»Scheißkerl«, flüstert er, während er die makabren Details überfliegt.
Siebenundzwanzig brutal gesetzte Stiche in Brust und Bauch, die lebenswichtige Organe getroffen haben. Sieben davon tödlich. Die übrigen Verletzungen sind alle oberflächlich: an den Händen – ›ein Hinweis darauf, dass sie versucht hat, sich zu verteidigen‹, denkt der Polizist – und am Rücken. ›Um sie an der Flucht zu hindern.‹
Eine winzige Erleichterung bringen die letzten zwei Zeilen, in denen sexuelle Gewalt ausgeschlossen wird.
›Wenn der Verrückte sie deshalb angegriffen hat‹, überlegt Antonio, ›hat Sandras Gegenwehr immerhin dafür gesorgt, dass er sein Ziel nicht erreicht hat.‹
Dieser Gedanke tröstet ihn ein wenig, vor allem als am Nachmittag in der Kirche am Piazzale Brescia die Beerdigung stattfindet.
Antonio führt seine Mutter am Arm, als sie den Eltern des Mädchens ihr Beileid aussprechen. Die beiden wagen es nicht, den Polizisten etwas zu fragen, doch ihre Blicke sprechen Bände. Ein verzweifelter Hilferuf. Der Vater ist herzkrank, und die erschöpfte Mutter brach ohnmächtig zusammen, als sie die Todesnachricht erfuhr. Die zwei anderen Töchter stützen sie unter Tränen. Der Anblick trifft Antonio sehr, denn es wirkt, als müssten sie ihr Leben aufrechthalten.
›Eine vom Schmerz zerstörte Familie‹, denkt er.
»Ihr kriegt ihn, nicht wahr?«, sagt seine Mutter zu ihm, als sie ein Stückchen weg sind.
Er macht eine unbestimmte Kopfbewegung, während sie sich ihren Weg aus der Menge bahnen. Die Brutalität des Mordes hat die Mailänder tief getroffen, so dass sie in Massen an der Trauerfeier teilnehmen. Sehr viele Menschen sind da, Freunde, Verwandte, Arbeitskollegen, die Ehrenamtler vom Roten Kreuz, Studenten und Personal von der Cattolica, aber auch Heerscharen von Journalisten, Schaulustigen, ganz
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