Milano Criminale: Roman (German Edition)
einer fast manischen Aufmerksamkeit und Sorge um die neugeborene Tochter gewichen. Aus der Revolutionärin ist eine Glucke geworden, was Antonio – der das nie im Leben zugeben würde, weil sie ihm dann beide Augen auskratzen und ihn einen Faschomacho nennen würde – bei weitem dem anderen vorzieht.
In Gedanken versunken hält er den Hörer wieder ans Ohr; zum Glück hat die unfreiwillige Trennung bald ein Ende, noch eine Woche, dann kann er bis Ende August bei ihnen bleiben. Heute ist Sonntag, und er fährt für den üblichen Kurzbesuch dorthin, verbringt einen Tag am Meer, um dann im Laufe des Montagnachmittags nach Mailand zurückzukehren. Doch damit hat dann das lästige Hin und Her für diesen Sommer erst einmal ein Ende.
Die Stimme seiner Mutter holt ihn aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. Die Frau erzählt ihm von einem Mädchen, das verschwunden ist.
»Wer denn?«
»Die Sandra, die kennst du doch! Sie wohnt bei ihren Eltern, ein Haus neben uns. Als Kinder habt ihr immer im Park der Piazza Brescia gespielt. Weißt du noch?«
Antonio schließt die Augen und sieht das kleine Mädchen mit rabenschwarzen Locken vor sich, das ihn anlächelt und seine Hand hält. Sie sind in der Via Osoppo, rund zwanzig Jahre zuvor; Sandra hatte ihm wirklich den Kopf verdreht und sein Herz höher schlagen lassen. Sie war auch am Tag des Banküberfalls dabei gewesen; er erinnert sich noch gut an ihr Blumenkleid und ihre geflochtenen Zöpfe, wie sie dort stand und mit offenem Mund den Leoncino und den Geldtransporter anstarrte, die gerade ineinandergekracht waren.
»Antonio, bist du noch da?«
»Ja, Mamma. Woher weißt du, dass sie verschwunden ist?«
»Ihre Mutter war bei mir, sie hat schon deine Kollegen vom Polizeirevier Magenta alarmiert, die haben sie aber wohl abblitzen lassen. Sie ist verzweifelt: Gestern Abend wollten sie alle zusammen nach Korsika fliegen, aber Sandra ist nicht nach Hause gekommen und hat auch nicht angerufen. Du kannst dir vorstellen, was in der Mutter vorgeht. Sie weiß nicht, was sie tun soll, und da ist ihr eingefallen, dass du in der Questura arbeitest, und so kam sie zu mir und bat mich um Hilfe.«
Santi wägt seine Worte genau ab, mit denen er antwortet.
»Das verstehe ich, aber sie ist sechsundzwanzig und erst seit wenigen Stunden verschwunden, und dann auch noch am Samstagabend. Vielleicht handelt es sich nur um ein Liebesabenteuer.«
»Nein! Sandra ist keins von diesen Mädchen!«
»Ja, aber es ist zu früh, um …«
Die Frau gibt nicht nach. Sie bearbeitet ihren Sohn so lange, bis er nicht anders kann als zu kapitulieren.
»Einverstanden«, seufzt Santi schließlich. »Ich werde mich mal telefonisch erkundigen.«
2
Montagmorgen.
Antonios Wochenende zusammen mit Carla und Beatrice verging wie im Flug. Ein paar Stunden am späten Nachmittag am Strand, Fisch zum Abendessen, eine Nacht mit seiner Frau, von der man sich wünscht, sie würde niemals enden, immer darauf bedacht, das Kind nicht zu wecken. Jetzt ist es acht Uhr und das Baby weint, vielleicht vor Hunger. Er liegt ausgestreckt mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Nach dem Mittagessen wird er nach Mailand zurückkehren für die letzte Arbeitswoche vor dem Urlaub. Er braucht dringend Erholung und möchte den Vormittag genießen mit dem Salzgeruch des Meeres, der durch die offenen Fenster hereinweht.
›Vielleicht kann ich noch ein Stündchen schlafen‹, denkt er, als das Telefon auf dem Nachttisch klingelt.
Er hat die Nummer ihrer Pension im Polizeipräsidium zurückgelassen, zusammen mit der Ansage, ihm alles zu melden, was mit der verschwundenen jungen Frau zu tun hat.
Seine Frau sieht ihn an.
»Das ist für mich«, sagt Antonio und greift nach dem Hörer.
Es ist nun mal mein Bullenschicksal, möchte er hinzufügen, lässt es aber bleiben.
Den Sonntag verbrachten Sandras Eltern im Zustand höchster Angst und nagender Ungewissheit, und doch hätten sie im Falle einer Wahl diese grausame Vorhölle wahrscheinlich dem Anruf vorgezogen, der ihnen am 26. Juli die Gewissheit brachte, dass ihre Welt zusammengebrochen war.
Santi kommt am frühen Nachmittag in der Cattolica an. Er hat die Universität noch nie betreten, stand bisher immer nur mit dem Helm auf dem Kopf, Schlagstock in der Hand und dem Rücken zum Eingang in einer Reihe mit seinen Kollegen, um das Gebäude vor der Besetzung durch die Studenten zu schützen. Nun kommt ihm ein kürzlich an Ramis Stelle zur Kripo versetzter Sovrintendente entgegen,
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