Milano Criminale: Roman (German Edition)
normale Leute, Nachbarn und natürlich Ordnungskräfte.
Piazza steht ganz hinten, mit ernster, undurchdringlicher Miene. Santi sieht ihn und tritt zu ihm.
Sie wechseln einen Gruß.
»Ob er wohl auch da ist?«, fragt Antonio mit leiser Stimme.
»Wer?«
»Der Mörder. Vielleicht ist er zum Schauen gekommen. Es könnte einer von diesen Psychopathen sein, die die Leute gerne leiden sehen. Der ganz high ist, weil er noch nicht geschnappt wurde.«
»Das ist die richtige Formulierung: noch nicht«, betont Piazza. »Aber bald haben wir ihn.«
6
»Juli ist kein schlechter Termin für einen Mord. Da haben die Bullen alle nur noch ihren Urlaub im Sinn. Da kannst du warten, bis du schwarz wirst: Den kriegen sie nicht mehr!«
Santi verschluckt sich beinah an seinem Kaffee, als er diesen Kommentar in der Bar hört. Überall gibt es nur ein Thema: Die Zeitungen sind voll mit den Fotos der Trauerfeier und dem neuesten Stand der Ermittlungen. Basile fährt immer noch die gleiche Schiene, vielleicht sogar noch härter. Vielleicht ist es pure Verachtung, dass er seinen Artikel mit der wohl abgegriffensten Überschrift im Stil des Dreißiger-Jahre-Feuilletons übertitelt: Die Polizei tappt im Dunkeln .
Glücklicherweise ist es für den Commissario der letzte Tag im Präsidium, auch wenn es ihm leidtut. Es kommt ihm vor, als würde er eine wichtige Arbeit mittendrin abbrechen, Sandras Familie ihrem Schmerz überlassen ohne einen Schuldigen, auf dem sie ihre Wut abladen könnten.
»Fahr du nur«, bestärkt ihn Piazza, der ihm das Unbehagen am Gesichtsausdruck abliest. »Ich halte dich auf dem Laufenden. Ich habe da so eine Idee.«
Santi entnimmt Piazzas Idee zwei Tage später dem ›Corriere‹ nach einem Strandspaziergang mit Frau und Töchterchen.
Der Leiter der Mordkommission hat beschlossen, die Psychopathenspur zu verfolgen, genauer gesagt die der ›Spanner‹, wie die Presse sie bezeichnet. Die Ermittlungen unter den Lehrenden und Studenten der Cattolica haben ergeben, dass es mindestens sechs Geisteskranke gibt, die durch die Flure der Universität streifen und jungen Frauen ›Liebesabenteuer‹ anbieten. Das schreibt zumindest eine Mailänder Zeitung, die im Titel noch eins draufsetzt: Irre Zählung – Polizei und Carabinieri decken dramatische Zahl geistig Kranker an Hochschule auf .
Die Einzelheiten erfährt Antonio von Piazza selbst, mit dem er jeden Abend telefoniert.
Auf dem Weg vom Strand nach Hause, so gegen sieben, ruft er ihn an. Fast ein Ritual: Er übergibt den Kinderwagen seiner Frau, bleibt bei einer Telefonzelle stehen und wählt die Nummer der Questura.
»Du hast doch keine Geliebte, oder?«, fragt Carla scherzend.
Er lächelt und bedeutet ihr, schon mal weiterzugehen.
»Jetzt habt ihr also die Psychopathen am Wickel«, beginnt er, als er die Stimme des Commissario am anderen Ende der Leitung hört.
»Wie ich sehe, reicht der Informationsfluss sogar bis in die Versilia.«
»Ist ja immerhin der Mordfall des Sommers.«
»Hör bloß auf, hier herrscht das totale Chaos.«
»Los, erzähl mir von diesen sechs Irren …«
»Da gibt es nichts. Wir konzentrieren uns auf die drei, die am verdächtigsten waren: auf einen Schiffbauingenieur um die vierzig, einen Langzeitstudenten, der – halt dich fest – die Regelstudienzeit um zwanzig Jahre überschritten hat und sich immer noch an der Uni rumtreibt, vor allem in den Toiletten, und auf einen weiteren Raben, der die Studentinnen in der Straßenbahn belästigt.«
»Nette Gesellschaft. Irgendetwas herausgefunden?«
»Nichts. Ich habe sie alle drei ausgequetscht, und meine Leute haben ihre Alibis überprüft. Alles stimmt, auch nach dem Kreuzabgleich. Keiner von ihnen hat mit dem Mordfall zu tun.«
»Und die anderen?«
»Drei sogenannte Sittenstrolche, die sich am Tag des Verbrechens in der Nähe der Universität aufhielten, einer wurde sogar beobachtet, wie er sich mit einer Frauenunterhose Luft zufächelte …«
»Hältst du das für realistisch?«
»Woher soll ich das wissen? Solche Fragen stelle ich mir gar nicht mehr. Die Stadt scheint das Opfer einer Art kollektiven Deliriums zu sein. Im Polizeipräsidium kommen Dutzende Briefe von Größenwahnsinnigen oder anonymen Absendern an. Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Diesen Letzten konnten wir jedenfalls noch nicht auftreiben.«
»Und die anderen zwei?«
»Einer ist ein Seminarist und unermüdlicher Regionalzugpendler zwischen Mailand und Saronno, den die Bahnpolizei schon mehrmals
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