Milano Criminale: Roman (German Edition)
schauen durfte«, murmelt Santi am Ende.
Piazza nickt, und für einen kurzen Moment scheinen die zwei sich mit einer Menschlichkeit anzublicken, die sie bisher nicht aneinander kannten.
»Jederzeit zu deiner Verfügung«, fügt Antonio hinzu, während die massige Gestalt des Staatsanwaltes am Ende der Treppe auftaucht.
Als die rote Stadt am nächsten Morgen erwacht, schaudert sie trotz der Schwüle. Eine neue, schreckliche Gewalttat hat das in den letzten Jahren so gebeutelte Mailand heimgesucht. Es bangt um seine Kinder, die selbst an einem Samstagmorgen in den Räumen einer Privatuni ihres Lebens nicht mehr sicher sind.
Der ›Corriere della Sera‹ titelt: Junge Ex-Studentin erstochen. Geheimnisvoller Mörder an der Università Cattolica.
Santi seufzt, als er in seinem Büro die Zeitungen studiert. Sandras Foto blickt ihm von allen Titelseiten entgegen, und das ist kein angenehmes Gefühl.
Die Reporter haben ohne lang zu fackeln das Leben des Opfers nach möglichen Antworten durchforstet. Die treffendste Rekonstruktion stammt von seinem alten Freund Basile in den Spalten von ›La Notte‹. Der Journalist schreibt nach einem einleitenden Absatz:
Sandra Fontana, 26, seit ihrem Abschluss an der Cattolica bei Montedison angestellt, wohnte bei ihren Eltern in der Via Osoppo. Nun wurde sie brutal ermordet, mit diversen Messerstichen in Bauch, Hals und Gesicht. Als sie gefunden wurde, war sie komplett bekleidet, und ihr Leichnam wies keine Spuren von sexueller Gewalt auf. Aufgrund von leichten Verletzungen an den Händen gehen die Ermittler davon aus, dass die junge Frau sich heftig gewehrt hat bei dem Versuch, die tödlichen Stiche des Mörders abzuwehren. Der Mörder muss das Mädchen in der Tür überrascht und sie gewaltsam und ohne Fluchtmöglichkeit in den Raum zurückgedrängt haben.
Die sofort aufgenommenen Ermittlungen verfolgen mehrere Hypothesen. Gestern Nachmittag wurde der junge Seminarist vernommen, der die Leiche gefunden hat. Der Student konnte plausible Gründen nennen, warum er die Damentoilette vom Aufgang G der Università Cattolica del Sacro Cuore betreten hatte.
Nichts Neues also. Antonio wirft die Zeitung auf den Tisch, zündet sich eine Zigarette an und lässt sich in seinen Sessel zurücksinken. Er muss die Ermittlung aus der Distanz verfolgen. Seine Aufgabe sind Raubüberfälle, nicht Morde. Dafür gibt es Piazza und seine Männer. Doch der Polizist kann sich nicht einfach mit dieser Zuschauerrolle zufriedengeben, deshalb beschließt er, etwas Ungewöhnliches zu tun, das ihn große Überwindung kostet. Er nimmt den Hörer auf und wählt eine Nummer.
3
»Diese Osteria wird erstmals bei Silvio Pellico genannt, wusstest du das? Er erwähnt sie in den Aufzeichnungen nach seiner Gefangenschaft in der Festung Spielberg …«
›Jetzt kehrt er auch noch den Bildungsbürger raus‹, stöhnt Santi innerlich und macht gute Miene zum bösen Spiel. Wie damals, als er den Zagato fuhr und Piazza ihm von der Rückbank aus Vorträge über das Wesen der Prostitution hielt. Jetzt sitzt er ihm gegenüber, und es ist nicht leicht, seinen Unmut zu verbergen. Sie essen in einer Trattoria direkt hinter dem Rathaus in der Via Agnello zu Abend. Santi hätte eine der mailändischen trani vorgezogen, jene einfachen Esslokale, die noch nicht zur Bar geworden sind. Doch obwohl dieses Lokal viel von Politikern und Großbürgern frequentiert wird, stellt es immer noch einen guten Kompromiss dar.
Piazza genießt das Essen und doziert.
»Die Koteletts mit Safranreis sind einfach göttlich. Musst du unbedingt probieren, Santi.«
Er lässt den jüngeren Kollegen schmoren. Ziert sich, lässt sich Zeit, und Antonio schweigt dazu. Der andere sitzt am längeren Hebel, und er muss mitspielen, wenn er irgendetwas über den Stand der Ermittlungen herausfinden will. Das Theater dauert bis zum Nachtisch, sie haben gut gegessen und vor allem eine ganze Flasche Rotwein getrunken.
Antonio beschließt, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Wie weit seid ihr mit den Ermittlungen, Achille? Ich bin mit diesem Mädchen groß geworden, ich kannte sie gut. Ganz abgesehen davon, dass ihre Mutter mich zweimal am Tag anruft, um zu erfahren, ob es was Neues gibt.«
Es ist das erste Mal, dass er ihn mit Vornamen anredet. Piazza sieht ihm in die Augen, als müsse er prüfen, ob er ihm trauen kann.
»Ehrlich gesagt, es gibt nicht viel mehr als das, was du wahrscheinlich aus den Zeitungen weißt«, seufzt er. »Was glaubst du
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