Milano Criminale: Roman (German Edition)
Erlebnis hatte der junge Bulle sich vorgenommen, besser zu werden. Intensive Trainingsstunden, Kugeln auf Pappkameraden. Beine und Arme, Herz und Kopf. Überzeugen oder abknallen.
»Das musst du selbst entscheiden«, lautete das Mantra seines Chefs. »Je nach Situation.«
Santi wusste, dass allein die Straße entscheiden würde, ob er jemanden umbringen würde oder nicht. Er musste nur sicherstellen, dass er im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung in der Lage war, seine Haut zu retten. Das war alles.
»Mailand ist eine Stadt, in der gelebt wird. Und gemordet«, wiederholt ihm der Commissario. »Mehr musst du nicht wissen, um ein richtig guter Bulle zu werden.«
»Ich werd’s mir merken.«
»Ach so, und noch etwas muss ich dir sagen, das Wichtigste: In Italien ist niemand unschuldig. Wenn das klar ist, kommt der Rest von selbst.«
Dass niemand unschuldig ist, hat Antonio schon vor geraumer Zeit gelernt. Einen neuerlichen Beweis dafür erhielt er an dem Morgen nach dem Kinobesuch, bei dem er Vandelli gesehen hatte. Im Archiv der Questura ging er die Verbrecherkartei durch, geleitet von seinem Bulleninstinkt, der ihn – im Guten wie im Bösen, je nachdem – mittlerweile immer und überall begleitet. Und tatsächlich, der Junge wurde gesucht! Doch jetzt, einen Tag später, noch eine Streife zur Piazza Tripoli zu schicken, wäre mehr als ein Glücksspiel. Ganz davon abgesehen, dass die Kollegen ihn für verrückt erklären würden.
Am selben Abend holt Carla Antonio zu Hause ab. Sie wollen eine Pizza essen gehen. In der Küche ist seine Mutter mit dem Abwasch beschäftigt, während er am Wohnzimmertisch auf einem grünen Tuch sorgfältig seine Beretta säubert und ölt. Das Mädchen verzieht das Gesicht.
»Ist es das, was wir im Leben wollen?«, fragt sie ihn.
»Was meinst du damit?«
»Wird es bei uns zu Hause immer eine Waffe geben?«
»Carla, ich bin Polizist.«
»Und wenn du es nicht wärst? Ich meine, wenn wir mal Kinder haben, hättest du dann nicht auch lieber … eine weniger gefährliche Arbeit?«
Er sieht sie an. Für einen Moment verstummt das Tellerklappern nebenan. Bevor Antonio spricht, wartet er ab, bis die Mutter weiter abspült.
»Bitte stell mich nicht vor diese Entscheidung. Das ist mein Beruf, er gehört zu mir.«
Die junge Frau erwidert nichts. Sie weiß, dass er sie liebt, doch ihr ist auch klar, würde sie ihn mit dem Rücken zur Wand stellen, ginge sie als Unterlegene aus der Entscheidung hervor. Also beschließt sie, die Strategie zu ändern. Sie streicht ihm über die stoppeligen Wangen.
»Gehst du mit mir zu einer Veranstaltung?«
Antonio sieht sie misstrauisch an.
»Wohin?«
Als Antwort zieht sie eine Schallplatte aus ihrer Umhängetasche und legt sie auf den Plattenteller.
»Hierhin«, antwortet sie und muss vor Begeisterung breit lächeln, während die ersten Töne durchs Zimmer ziehen. »Sie spielen nächste Woche in Mailand.«
Ihre Augen leuchten, und sie ist aufgeregt wie ein Kind. Antonio weiß, wie sehr sie diese Band liebt, ständig redet sie von ihr. Carla liebt Musik aus England, und vor ein paar Jahren, ganz am Anfang ihrer Beziehung, wollte sie schon einmal unbedingt auf ein Konzert von ihnen gehen. Antonio, der Tag und Nacht damit beschäftigt war, den Solisten an der Maschinenpistole zu jagen, hatte nicht freibekommen, um sie zu begleiten. Doch sie war nicht umzustimmen gewesen und schließlich mit einer Freundin hingegangen. Seitdem erzählte sie bei jeder Gelegenheit, wie wunderbar dieser Abend gewesen war.
Das Konzert hatte am 24. Juni 1965 auf der Radrennbahn Vigorelli stattgefunden, das erste und einzige Mal, dass die Beatles in Mailand spielten. Sie waren mit dem Nachtzug aus Lyon angereist. Insgesamt zu neunt: außer John, Paul, George und Ringo noch ihr Manager, die dolmetschende Sekretärin und drei Leibwächter. Um die wartenden Fans zu vertreiben – unter ihnen auch Carla, die alle Texte der Pilzköpfe auswendig konnte –, kündigte die Lautsprecherdurchsage am Bahnhof das Einfahren des Zuges kurzerhand auf einem falschen Gleis an. Antonios Kollegen von der Eisenbahnpolizei hatten alle Hände voll zu tun, die Begeisterung der hysterischen Minirock-Mädels in Zaum zu halten, die wegen der vier Jungs aus Liverpool geradezu ausflippten. Die Presse zeigte sich nicht ganz so begeistert, mit Ausnahme einiger Jugendzeitschriften, die sogar Ermäßigungscoupons für Eintrittskarten verschenkten. Die Wochenzeitschrift ›Gente‹ fertigte sie
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