Milano Criminale: Roman (German Edition)
Rande von Turin. Und es steht in dem Ruf, ein heißes Pflaster zu sein; wer im Zentrum wohnt, nennt es la bariera ’d l’Emme , das Mailänder-Tor.
Große Wohnhäuser und Sozialbauten, dicht an jene Stadtmauer geschmiegt, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zur Kontrolle der Warenflüsse errichtet worden war. Die Vielzahl an Durchgängen und -fahrten, an denen Zoll entrichtet werden musste, nannte sich barriere , Schranken. Daher auch der Name des Tores, das in Richtung der lombardischen Hauptstadt aus der Stadt hinausführt.
Das Viertel ist politisch rot, hier vermengt sich der Zorn auf die höheren Gesellschaftsschichten mit dem Wunsch nach dem leichten Leben, also scheffelweise Geld und käufliche Frauen. Von hier kommen die vier Jungs, und alle verfolgen denselben Traum. Die Gang schart sich um einen jungen Mann, der das Zeug zum Anführer und die Arroganz der Jugend hat. Er heißt Pietro Cavalieri, ist groß, extrem dünn und hakennasig, und er führt ein eigenartiges, beunruhigendes Lächeln auf dem Gesicht. Aufgewachsen ist er zwischen Schlägen, Staub und den verrauchten piole , den Tavernen der Peripherie.
Alles, was er kann, hat er auf der Straße gelernt, sein Fuß hat sich niemals in eine Werkshalle verirrt.
»Ich werde ganz sicher nicht im Lingotto enden, um Fronarbeit für die feinen Herrschaften zu verrichten, ums Verrecken nicht!«, lautet einer der Sätze, die man am häufigsten von ihm hört.
An jenem Abend wird in der Piola del Sordo zwischen einigen Gläsern übelstem Barbera und starken Worten eine Idee geboren, die ihn und seine drei Reisegenossen in die Ferne führen wird. Die drei anderen, das sind Marco Voletto, Sohn venetischer Einwanderer, Aimo Negri, der offiziell Staubsaugervertreter ist, und Danilo Baldi, einstiger Partisan aus dem Aostatal. Die Grundüberzeugung, die sie verbindet, ist schnell zusammengefasst: ›Wer von früh bis spät für sein täglich Brot malocht, während die Frau ihm zu Hause Hörner aufsetzt, ist ein Idiot.‹
»Bullen?«, fragt der Boss rhetorisch. »Hungerleider und Sklaven des Staates. Wir werden die Besten sein, die Unbesiegbaren: Keiner kann uns aufhalten!«
Es steckt wohl eine Menge Barbera in diesem Satz, und doch scheint er alle zu überzeugen. Also geht es los.
Baldi karrt das alte Waffenarsenal der Resistenza heran – drei Sten, ein paar Luger und eine Browning Kaliber 9 mm –, das noch in einem Gehöft bei Pinerolo lagerte.
Cavalieri behält den Überblick, er schwört sie auf die gemeinsame Sache ein. Er ist charismatisch und bärbeißig, wer ihm widerspricht, bekommt seine Faust zu spüren. Alle gehorchen ihm. Sie lassen ihm Zeit zum Planen. Er liest sogar Zeitung, studiert seine Gegner, sieht ihren nächsten Schritt voraus und kommt ihnen zuvor.
Eine Woche später stürzen sie sich in das Abenteuer, mit den Waffen im Anschlag stehen sie vor dem Bankschalter einer Filiale der Turiner San Paolo. Ihr erster Banküberfall, der Verlust ihrer Unschuld.
Es gibt keine Komplikationen, alles läuft wie geschmiert, auch dank einiger Spezialkniffe.
Erstens: knappe, klar verständliche Anweisungen während des Überfalls. Kurze Sätze und Worte auf Französisch wie ›vite, vite‹ oder ›la cassefort‹ . Ein bisschen Show für die Zeugen, damit sie die Polizei auf die falsche Fährte setzen, die den Marseille-Clan für die Täter hält, der sich gerade neu formiert hat, nachdem René Bellini bei einer Überführung zum Richter aus dem Gefängnis ausgebrochen ist.
Zweitens: sich mit der Beute in Richtung Zentrum absetzen, während die Polente sämtliche Wege stadtauswärts absperrt. An jenem Tag parken die Gangster ihren Fiat 1400 nach dem Bruch auf der Piazza Vittorio Veneto und setzen sich in aller Seelenruhe in ein Restaurant, während die Polizei mit einem Riesenaufgebot an Einsatzkräften rund um die Stadt nach ihnen fahndet. Aus einem offenen Fenster erklingt Luigi Tencos Stimme mit dem Lied Lontano, lontano .
Cavalieri lächelt.
»Dahin werden wir es bringen: sehr, sehr weit.«
2
Antonio geht oft auf den Schießstand, wann immer er kann. Vor allem abends.
»Wenn du schon schießen musst, dann wenigstens zielsicher«, lautete Nicolosis Ermahnung.
Den Rat bekam er an einem Tag, als er mitansehen musste, wie sein Vorgesetzter einen kleinen Dieb lahmschoss, der sie mit der Pistole bedrohte. Der Commissario zerschmetterte ihm die Kniescheibe, woraufhin der Getroffene wie ein Tier aufjaulte und die Waffe fallen ließ.
Nach diesem
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