Milano Criminale: Roman (German Edition)
mit den folgenden Worten ab: Sie sind nicht in der Lage, richtige Lieder zu schreiben, beim Komponieren pfeifen sie wahllos irgendeine Melodie, die sie dann auswendig lernen .
Wie auch immer, der Trick mit dem falschen Gleis funktionierte jedenfalls, und während die Fans in die Röhre guckten, stiegen die Musiker in aller Ruhe aus ihrem Zug und quartierten sich im Hotel Duomo ein.
Am nächsten Morgen trafen sie sich, um das berühmte Foto vor den Spitzen des Doms und der Madonnina zu machen, das später das italienische Cover der Single She’s a Woman schmücken sollte.
Auf der Radrennbahn Vigorelli spielten sie zwei Konzerte unter freiem Himmel, nachmittags und abends, fünfundzwanzigtausend Zuschauer insgesamt, eine gute halbe Stunde Show mit knapp zwölf Songs im Programm. Sie eröffneten mit dem bekannten Twist and Shout , einem echten Ohrwurm, den Carla immer dann vor sich hin summt, wenn sie zufrieden mit sich ist.
All diese Erinnerungen liest Antonio nun in ihrem Blick. Sobald sie davon redet oder daran denkt, beginnen ihre Augen zu glänzen wie sonst nie, und ihm wird klar, dass er nicht nein sagen kann. Selbst wenn er kurz vor der Verhaftung Dillingers oder Al Capones stünde. Also ergreift er die Plattenhülle und liest: The Rolling Stones .
»Die rollenden Steine, Antonio, du wirst sie lieben!«
3
Die vier Jungs aus der Barriera finden sich in der neuen Welt schnell zurecht. Schnelles Geld, Adrenalin und vor allem kein anstrengendes Schuften am Band für wenige Lire. Immer seltener sieht man sie in den Kaschemmen der Peripherie. Nun können sie sich das schöne Leben in den Lokalen des Zentrums leisten. Champagner und Animierdamen. Alles wird leicht, erschwinglich: alles, wovon sie immer geträumt haben.
Sie haben sich die nötigen Schießeisen besorgt und die Kriegsreste weggeworfen. Cavalieri hat nun eine halbautomatische Smith & Wesson .357 im Gürtel stecken, unter der Jacke. Nur Baldi ist seiner alten Waffe treu geblieben, einer 9 mm Luger, und er fühlt sich auch in diesen neuen Lokalen, die sie nun frequentieren, nicht so recht heimisch. Er kommt aus den Bergen, ist ein Mann der kargen Worte und der großen Ideale. Er versteht nicht, wohin sie treiben, doch er zählt auf den Boss und schiebt seine Zweifel beiseite. Auch Aimo Negri und Voletto lassen sich von der allgemeinen Stimmung mitreißen und vertrauen ihm. Das ist Cavalieris Geheimnis. Er verdankt es allein seiner Intelligenz, dass er der Boss ist. Dass er eine Handbreit über die anderen hinausragt. Wenn er spricht, lauschen sie und kuschen. Diesen Rang hat er sich hart erarbeitet.
Vier Coups haben sie bereits durchgeführt – drei Banken und ein Postamt –, und jedes Mal lief alles wie am Schnürchen dank Pietros gutem Gespür. Mit jedem Coup hat sich ihre Technik verfeinert, auch wenn der Ablauf immer derselbe war: ein Auto klauen, die betreffende Bank stürmen, an der Kasse einsacken, was zu holen ist, und dann nichts wie weg mit durchgedrücktem Gaspedal. Wenn sie verfolgt werden, auch mit Schüssen.
An diesem Abend beim Essen ist der Boss in Hochstimmung.
»Wir haben eine Mission«, beginnt er. »Wir sind keine x-beliebigen Kriminellen, sondern tapfere Krieger, die mit der Pistole im Anschlag die Revolution vorantreiben! Wir sind keine Verbrecherbande, sondern ein Partisanenkommando, das gegen die bestehende Macht kämpft: die Finanzmacht!«
Aimo füllt die Gläser und stößt auf die Rede an. Auch Baldi hebt kopfschüttelnd sein Champagnerglas. Barbera trinken sie schon lange nicht mehr.
Später nach dem Abendessen, das locker zwei Monatsgehälter eines Fiat-Arbeiters verschlingt, landen sie einmal mehr in der Piola del Sordo für einen Absacker. Eine Runde Grappa: Immerhin darin sind sie sich treu geblieben.
Cavalieri gibt immer noch den Idealisten: Es reicht ihm nicht mehr, einfach Banken auszurauben und fertig, nein, er möchte, dass alle Welt den politischen Antrieb ihres Handelns erkennt.
Er ist zu der Überzeugung gelangt, dass das, was sie tun, eine Art Mission ist. Sie müssen etwas beweisen, sich gegen die Ausgrenzung zur Wehr setzen, zu der die Gesellschaft sie zwingt.
»Wir werden den Banken erklären, wie sie sich im Falle eines Überfalls zu verhalten haben«, verkündet er.
»Und wie?«
»Oh, das werdet ihr morgen sehen. Jetzt ab in die Falle.«
Der Banküberfall am nächsten Tag ist merkwürdig. Selbst seine drei Kumpane sind leicht irritiert, als Cavalieri samt Maschinenpistole auf den Bankschalter
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