Milano Criminale: Roman (German Edition)
guten, kräftigen Stimme, der nach Mailand gekommen ist, um seinen großen Traum vom Ruhm wahr zu machen, und sich bis dahin als Hilfsarbeiter und Kellner durchschlägt.
Eine Fangruppe des Sängers macht mit Geschrei und Plakaten auf sich aufmerksam. Auf einem steht: ›Al Bano – besser als die Stones‹.
»Blasphemie«, kommentiert Nina, und Roberto, den die Szene amüsiert, knipst ein paar Fotos von dem Sänger.
Sie müssen nicht lange warten. Strotzend vor Energie kommen die Stones auf die Bühne. Ein langer Beifallssturm braust auf. Ihre Mienen sind betont ernst, ihre Kleider spiegeln den New-Dandy-Style, so etwas wie die europäische Variante von Flower Power.
Die Akustik ist mies, und die ersten Gitarrenriffs von Keith Richards gehen im Gejohle der Fans unter. Vandelli ist nassgeschwitzt, so dicht an dicht wie sie hier zwischen langhaarigen Jungs und Mädchen in kurzen Karoröcken und Lederstiefeln stehen. Die Musik jedoch elektrisiert ihn. Sie packt ihn wie ein reißender Strom, lässt sein Herz höher schlagen.
Jagger springt wie ein Irrer über die Bühne und stampft beim Singen den Rhythmus mit, Brian Jones wechselt bühnenreif zwischen Bass und Gitarre hin und her, manchmal sogar im selben Stück, Wyman und Watts hingegen wirken wie Mumien, so unbeweglich sind sie. Richards mit seinem Raubtiergesicht lässt die Finger frenetisch über die Saiten tanzen, während ihm die gewohnte Zigarette im Mundwinkel hängt.
Das Konzert ist schnell zu Ende. Zehn unvergessliche Songs. Darunter einige ihrer frühen Klassiker, die italienische Version von As Tears Go By: Con le lacrime . Dann Lady Jane, Ruby Tuesday und zum Schluss Vandellis Lied.
Während das Publikum wie aus einer Kehle mitsingt, glaubt der Kriminelle unter den begeisterten Menschen das Gesicht eines Bullen zu erkennen, den er von der Via Osoppo und der Piazza Tripoli her kennt. Instinktiv tastet er in seiner Jackentasche nach dem Knauf seiner 38er; die Menge wogt, drückt, schiebt, wird ein einziger Leib, und er verliert ihn aus den Augen. Er hält Nina fest umarmt, die mit geschlossenen Augen aus vollem Hals mitsingt.
Es ist magisch, die Zeit scheint stehen zu bleiben, und auch Roberto lässt sich irgendwann von den Gesängen der Menge mitreißen.
Hey hey hey, that’s what I say
I can’t get no, I can’t get no
I can’t get no satisfaction
No saticfaction, no satisfaction, no satisfaction!
5
Der 4. Mai ist ein ganz besonderes Datum für die Menschen, die im Schatten des Turiner Wahrzeichens, des Turms Mole Antonelliana, leben, zumindest für einige von ihnen. Für Baldi auf alle Fälle: der Jahrestag des Flugzeugabsturzes. Sein altes, granatapfel-rot schlagendes Herz zieht sich immer noch trauernd zusammen beim Gedanken an das, was vor zehn Jahren hier passiert ist. An jenem Abend im Jahr 1949 hatte er Tränen vergossen, als das Flugzeug mit der gesamten Fußballmannschaft des AC Turin an Bord, dem Grande Torino, wie sie aufgrund ihrer fünfmaligen Meisterschaft in Folge von aller Welt genannt wurde, an einer Mauer der Kirche auf dem Turiner Hausberg Superga zerschellte. Einunddreißig Tote.
Seitdem steigt er jedes Jahr am Tag des Absturzes dort hinauf, wo die Namen der Fußballspieler und der anderen Opfer der Katastrophe auf einem Gedenkstein verewigt sind.
Merkwürdige Gedanken gehen ihm auf seinem Rückweg durch den Kopf. Zum Beispiel, dass er am Vortag fast einen Bankangestellten erschossen hätte, nur wegen der Laune seines Chefs.
›Eine Million pro Nase: mehr ist ein Menschenleben nicht wert?‹, fragt er sich.
Er beschließt, am Po entlangzuspazieren, durch den Valentino-Park. Das Wasser des Flusses strömt rasch dahin. Genau wie seine Gedanken.
›Die Gang läuft in die falsche Richtung‹, denkt er. ›Cavalieri hat sich verändert, er ist abgedreht. Andererseits war er schon immer irgendwie eigen: Er hasst Fiat, ist aber für Juventus, wie die Reichen. Und so was nennt sich Kommunist!‹ Der Fluss trägt alles mit sich fort, doch gegen die bösen Gedanken kann er nichts ausrichten. Am Abend erscheint Baldi mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck zu ihrem Treffen in einem Nachtclub unter der Mole Antonelliana. Zwei Flaschen im Sektkühler und Adriano Celentano, der durch die Lautsprecher den Jungen aus der Via Gluck besingt.
Der alte Partisan lässt sich nicht von der entspannten Atmosphäre einlullen. Er bleibt stehen.
»Mir reicht’s«, verkündet er.
Pietro sieht ihn an. Er bemerkt das angespannte Gesicht, den
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