Milano Criminale: Roman (German Edition)
springt und dem Bankpersonal sowie den Kunden erklärt, wie die ›Enteignung‹ ablaufen wird.
In der ruhigen und höflichen Art aller Piemonteser wendet er sich an die Anwesenden.
»Verehrte Damen und Herren«, beginnt er, »von heute an hat jedes Bankinstitut, das wir aufsuchen, die moralische Verpflichtung, uns für jeden anwesenden Angestellten eine Million Lire auszuhändigen. Wir wollen weder Schaden anrichten noch Menschen töten. Unser Ziel ist die Enteignung.«
Er sagt wortwörtlich: moralische Verpflichtung.
An diesem Tag sind fünf Angestellte im Haus, und die Beute beläuft sich am Ende auf fünf Millionen. Der Boss zählt eigenhändig die Banknoten durch, bevor sie das Weite suchen.
»Verbindlichsten Dank«, raunt er und rennt zum Ausgang.
Sie springen ins Auto und der gestohlene Lancia Aurelia rast mit quietschenden Reifen los.
»Und wenn sie sich gewehrt hätten?«, fragt Baldi mit aufgerissenen Augen. »Wenn die Beute kleiner als fünf Millionen ausgefallen wäre, hätten wir sie dann wie Tiere abgeknallt?«
»Klar, denn dann hätten sie sich gegen das Proletariat gewendet«, erwidert Cavalieri kalt. »Wer sich auf die Seite der Kapitalisten stellt, verdient keine Schonung, findet ihr nicht?«
Niemand wagt zu widersprechen.
4
Die Waffe hat Vandelli nur mitgenommen, um sich sicherer zu fühlen. Klein und handlich liegt sie in seiner Jackentasche und fällt nicht weiter auf. Ohne Waffe verlässt er nicht mehr das Haus, vor allem, wenn er sich unters Volk mischt.
»Menschenmengen sind an sich schon irgendwie beunruhigend«, flüstert er Nina ins Ohr, als sie sich anstellen. Sie nickt, ohne zu antworten. Sie ist zu aufgeregt, um sich von seiner miesepetrigen Laune anstecken zu lassen.
Es ist ein ungewöhnlich warmer Aprilabend, und der Gangster würde am liebsten auf dem Absatz kehrtmachen und gehen, doch er weiß, dass sie ihm das kaum verzeihen würde. Stundenlang hat sie auf ihn eingeredet, dass er mitkommt. Alles fing am Vorabend in ihrer gemeinsamen Zweizimmerwohnung an, einer dieser Mietswohnungen, die über den durchlaufenden Balkon mit den anderen Wohnungen verbunden sind, in der Via Porpora, einer lebhaften Geschäftsstraße mit vielen Läden und zu jeder Uhrzeit voller Menschen; die Miete haben sie aus den Früchten eines Überfalls für ein Jahr im Voraus bezahlt. Auf dem Küchentisch lag ein flaches Paket. Blaues Geschenkpapier, das er ohne viele Umstände aufriss. Eine Schallplatte.
In diesem Moment war Nina aus dem Schlafzimmer gekommen, um die Überraschung in seinem Gesichtsausdruck zu genießen.
»Roberto, sieh nur, der Sänger sieht aus wie du.«
»Ein Engländer?«
»Ja, aber er hat deine Ausstrahlung und dieses unglaubliche Charisma, genau wie du.«
»Wie heißt er?«
»Mick Jagger.«
»Scheiße, was für ein Drecksname.«
»Warte ab, bis du ihn singen hörst. Los, leg auf.«
Die Platte hieß Out of Our Heads .
»Dein Song ist der erste auf der B-Seite.«
Vandelli hatte den Tonarm gesenkt und lauschte konzentriert der Musik. Unverwechselbare Stimme. Rhythmus. Sinnlichkeit und Gewalt. Und dann dieser Refrain, besser noch dieses eine Wort, das es ähnlich auch in seiner Sprache gibt.
»Stimmt«, hatte er schließlich gesagt und das Mädchen in Richtung Bett geschoben. »Das ist ganz entschieden mein Song.«
Am nächsten Tag nun waren sie da. Sie zwei, allein in der Menge im Palalido-Stadion.
Vandelli stöhnt, er ist es nicht gewohnt anzustehen. In den Lokalen, wo er verkehrt, kennt man ihn und lotst ihn an der Schlange vorbei. Immer ist der beste Tisch für ihn reserviert. Heute Abend ist das anders. Vor dem Eingang stehen ein paar Carabinieri, und er muss die ganze Zeit auf den Boden schauen; das hier ist garantiert nicht der richtige Ort, um einen Streit anzufangen.
Er hat sich einen Fotoapparat umgehängt – den er am selben Nachmittag einem spanischen Touristen entwendet hat –, während Nina in ihrer Tasche einen bleischweren Kassettenrecorder mit herumschleppt, mit dem sie die Jagger-Songs aufnehmen will.
Nach zwanzig Minuten Schieberei und bis zum Filter aufgerauchten Zigaretten treten sie endlich durch das Gitter. Ordnungskräfte gibt es im Innern wenige, drei große, lustlos aussehende Jungs, mehr nicht. Es riecht nach Haschisch und Schweiß. Auf der Bühne singt in Erwartung der Band ein Liedermacher, von dem Vandelli in den Folgejahren noch hören wird: Al Bano. Ein Jüngelchen mit Brille und starkem süditalienischen Akzent, dafür einer
Weitere Kostenlose Bücher