Milano Criminale: Roman (German Edition)
Hochzeitsreise vergangen, und er hat sich einen Bart wachsen lassen, äußerst gepflegt natürlich, aber doch unorthodox.
»Wir sind Soldaten, Sovrintendente Santi«, bemerkt sein Vorgesetzter, kaum dass sie unter sich sind, »wir dürfen unser Äußeres nicht vernachlässigen. Himmel, du siehst ja aus wie einer von diesen Studenten auf den Barrikaden! Morgen ist das geregelt, haben wir uns verstanden?«
Der Polizist nickt. Er ist weder genervt noch verärgert. Er ist Bulle von Beruf und weiß, dass gewisse Regeln ohne Wenn und Aber eingehalten werden müssen. Der Bart war so etwas wie eine Marotte, die er sich in der Zeit zwischen Nicolosis Abschied und der Ankunft des neuen Chefs gegönnt hat. Nun ist das Gleichgewicht wieder hergestellt, und man kehrt zu den alten Gewohnheiten zurück, auch wenn ihm das Leben im Präsidium ohne seinen Commissario völlig verändert vorkommt. Er fühlt sich leicht verloren ohne den Mann, der ihn die vergangenen drei Jahre geführt hat. An seiner Stelle steht nun jemand, der im Großen und Ganzen noch jung zu nennen ist, wenngleich mit einem ansehnlichen Erfahrungsschatz im Gepäck. Ein Déjà-vu für die Mailänder Kripo. Denn Piazza war nach der Festnahme der Gangster von der Via Osoppo – bei der er Nicolosi als rechter Arm assistiert hatte – mit der Beförderung zum Vizekommissar in der Tasche nach Bologna geschickt worden. In der turbulenten Emilia hatte er sein Lehrgeld bezahlt, um nun als Kripochef mit dem Grad eines Commissario gestärkt in seine neue Rolle zurückzukehren.
Es berührt Santi eigentümlich, ohne seinen alten Chef in den Zagato zu steigen.
»Probleme, Santi?«
»Nein, Signore. Wohin fahren wir?«
»In die Via XX Settembre.«
Der Motor heult auf, und der Wagen fädelt sich in den Berufsverkehr des Montagmorgens ein.
Es ist eine herrschaftliche Gegend. Prachtvolle Häuser, gepflegte Gärten, blankgescheuerte Messingtore. Doch aus irgendeinem Grund verzieht Piazza das Gesicht. Santi weiß nun, warum der Commissario ihn gleich am ersten Tag hierher chauffiert hat. Als braver Bulle hat er Erkundigungen über den neuen Chef eingeholt: In seinen Emilianer Jahren hat Piazza lange Zeit beim Sittendezernat gearbeitet, und gewisse Spuren davon sind unauslöschlich. Ein wahres Kreuz.
Die Via XX Settembre liegt im Rücken des Sempione-Parks und ist eine der ersten Adressen für den Mailänder Straßenstrich. Tag und Nacht, zu jeder Stunde sind die Bordsteinschwalben hier auf der Jagd nach Kundschaft.
»In Bologna haben wir damit komplett aufgeräumt, Santi. Die Kinder sollen keine Nutten auf der Straße sehen! Schau doch nur da, die Mutter mit dem Kinderwagen, die an diesem Flittchen vorbei muss, dieser … Das können wir doch nicht hinnehmen, was meinst du?«
Antonio macht eine unbestimmte Kopfbewegung. Ihm liegt auf der Zunge, dass es völliger Wahnsinn ist, Mailand von der Prostitution säubern zu wollen, doch er behält den Gedanken für sich. Sie hatten ohnehin schon einen schweren Start miteinander, das muss er nicht noch schlimmer machen.
Der Zagato fährt langsam und unter dem zunehmend angewiderten Blick des Commissario durch diesen Supermarkt des Fleisches.
»Mein erstes Ziel«, verkündet er, als spräche er von einer Kanzel herab und nicht zu dem Kollegen neben sich, »wird es sein, dieser würdelosen Fleischbeschau ein Ende zu bereiten, die dem Ansehen der Stadt schadet. Ich finde es unerhört, dass ordentliche Leute die Straßenseite wechseln müssen, um diesem schändlichen Markttreiben auszuweichen.«
Santi verdreht die Augen und sagt nichts. Die Narbe an seinem Arm beginnt zu pochen, und das ist, so weiß er aus Erfahrung, kein gutes Zeichen.
Am nächsten Tag das gleiche Lied, sie fahren erneut eine Aufklärungsrunde. Die Mädchen stehen überall und kennen scheinbar nicht die geringste Scham.
»Mehr Nutten als Laternenmasten«, seufzt Piazza, »es ist unglaublich. Was ist nur aus dieser Stadt geworden.«
Antonio schweigt. Er zwingt sich, nicht auf die Reden des Kripochefs zu hören, auch nicht, als dieser sich verwundert darüber zeigt, dass trotz mehrfacher Hinweise und Petitionen seitens der Anwohner nie etwas in dieser Richtung unternommen wurde. Als wüsste er nicht, wie die Dinge laufen.
»Wir dürfen nicht zulassen, das so schicke Wohngegenden wie diese zu Freiluftbordellen verkommen, findest du nicht, Santi?«
Diesmal nickt der Polizist. Er ist frisch rasiert. Kein einziges Barthaar mehr und auch die Haare hat er sich
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