Milano Criminale: Roman (German Edition)
es dann kaum erwarten, zurückzuschlagen. Man begibt sich auf das Niveau von Tieren, und die jungen Leute da vorne, genau wie man selbst, werden zu Feinden, die vernichtet werden müssen. Die in ihre Löcher zurückgescheucht werden müssen, damit sie Mailand nicht in eine Stadt aus Barrikaden und Straßenkampf verwandeln.
Das von den Vorgesetzten auferlegte Abwarten diente allein dazu, da war er sich sicher, ihre Wut anzufachen. Dann, wenn sie ausreichend geladen waren, würde man sie loslassen, um sich abzureagieren und die Staatsfeinde niederzuknüppeln.
Die Zeit der Verhandlung war vorbei. Keine Angebote mehr von Sovrintendente Antonio Santi, nur Verteidigung. Schlagstock und Tränengas gegen Stöcke und Steine.
»Warum setzt ihr Tränengas gegen die Studenten ein?«, fragt Carla am selben Abend. »Wollt ihr das Volk verteidigen oder euch selbst? Oder könnte es sein, dass die Studenten zum Neidobjekt deiner Bullenkollegen werden? Die stammen ja oft genug aus Süditalien, müssen arbeiten, um die Familie zu ernähren, während diese Papasöhnchen studieren gehen und Doktoren werden, Architekten, Richter … Ist es das vielleicht?«
Antonio lässt sich Zeit mit der Antwort. Viele seiner Kollegen sind tatsächlich dieser Meinung. Er nicht, nachdem er zwei Monate mit ihnen verbracht hat.
»Niemand ist im Recht«, sagt er schließlich. »Niemand.«
Sie verstummt.
»Das ist meine Meinung«, fährt er fort. »Auf keiner Seite wird für die gerechte Sache gekämpft. Und weißt du auch, warum? Nicht weil wir Staatssklaven sind und sie die Kinder der Bourgeoisie, oder weil wir der bewaffnete Arm der Democrazia Cristiana sind und sie der der Kommunisten. Das ist alles der Unfug, den die Zeitungen verzapfen. Das Problem ist, dass wir und sie gleich sind, die gleichen Wünsche haben. Ich will dir ein Beispiel nennen: Weißt du, warum wir täglich aufhören, uns zu prügeln? Nicht etwa aus Vernunft oder durch einen konstruktiven Dialog. Nein. Wir hören auf, weil wir schnell nach Hause wollen, um Rischia tutto im Fernsehen zu sehen. Jeden Tag erlebe ich diesen unglaublichen Vorgang: Abends Punkt acht, plus minus eine Minute, rennen sie alle vor den Fernseher. Revoluzzer und Ordnungshüter. Befriedet. Wir sind gleich, wir und sie. Es gibt keinen Unterschied.«
»Ihr seid nicht gleich, Antonio. Überleg doch nur, was ihr in Avola angerichtet habt.«
»Was wir angerichtet haben?«, ruft er.
»Ja, ihr Polizisten. Himmel, warum verstehst du das denn nicht?«
»Ich verstehe das nicht, weil es nichts zu verstehen gibt.«
Also erklärt sie ihm, was es zu verstehen gibt, indem sie ihm einmal mehr berichtet, was sich in Avola zugetragen hat, das er selbst längst aus Fernsehen oder Zeitungen weiß. In dem kleinen sizilianischen Dorf, von dessen Existenz bis heute niemand wüsste, wäre nicht an jenem 2. Dezember ein Protest von Erntehelfern, die dreihundert Lire mehr Lohn forderten, in einer Tragödie geendet. Nach einer Welle fruchtloser Proteste hatte man beschlossen, eine Straßensperre zu errichten – ein Sattelzug wurde quer über die Straße gestellt –, was die Ordnungskräfte auf den Plan rief. Die Grundbesitzer hatten sie zur Hilfe gerufen. Neunzig Mann mit Maschinenpistolen, die Taschen voll mit Tränengasbomben und Stahlhelmen mit heruntergeklapptem Visier. Es war keine gute Idee gewesen. Zerstreut und ohne Verbindung miteinander, hatten die Polizeibeamten den Kopf verloren, bis einer von ihnen, verängstigt und von den anderen getrennt, geschossen hatte. Die Kollegen hatten es ihm nachgemacht. Dominoeffekt.
»Sie haben zwei Arbeiter umgebracht und achtundvierzig Personen verletzt, Antonio. Sie sind Mörder!«
»Sie haben sich verteidigt.«
»Danach hat man zwei Kilo verschossene Munition eingesammelt. Zwei Kilo! Dabei waren die Streikenden nicht einmal bewaffnet. Vor wem haben sie sich denn verteidigt, sag mir das mal! Ihr seid nicht gleich.«
Der Mann senkt den Blick und nickt.
»Du hast recht, wir sind es nicht.«
Als er das sagt, begreift er, dass er nicht mehr der sorglose Junge aus der Via Osoppo ist. Zu viel ist passiert in den vergangenen zehn Jahren, um noch der Gleiche zu sein wie früher. Vorfälle, Trennungen, Begegnungen. In seinem Kopf überschlagen sich Gedanken, Erinnerungen und Emotionen. Er möchte aufhören, möchte einen Punkt machen, sich ausruhen, doch er kann nicht, es ist noch nicht vorbei. Es ist nie vorbei. Morgen wird Castelli aus dem Gefängnis entlassen. Todsicher wird er
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