Milas Lied
Mila, wischte sich mit der Hand über den Mund und begann zu singen.
Meine Janis.
Solnyschko…
Solnyschko
Die Nacht ist ein schönes Kleid.
Dein Kuss malt meine Lippen rot.
Rot steht mir gut.
Heute trage ich Mond im Haar.
Mond steht mir gut.
So muss es für immer sein.
Solange du bist, bin ich schön.
Deine Worte sind Lieder.
Hör nicht auf zu sprechen.
Wenn du schweigst, bin ich taub.
Niemand verstand hier…
Niemand verstand hier Russisch, aber das war auch gar nicht nötig. Milas Lieder sprachen eine eigene Sprache. Eine, die nicht aus Silben und Wörtern und Sätzen, sondern aus Harmonien, Bildern und Bewegungen bestand. Nicht nur ihre Stimm e – Milas ganzer Körper sprach zu uns: ihr dünner, sehniger Arm, der die Saiten schlug, ihre geschlossenen Lider, die unaufhörlich zuckten, ihre schmalen Schultern, die sich unter der Last der Melodien bogen, die schwarze Stiefelspitze, die unberührt von alledem den Takt klopfte. In ein wundersames Instrument schien sich Mila vor unseren Augen zu verwandeln. Und plötzlich stellte ich mir vor, dass dieses Mädchen sich vielleicht auch hin und wieder nach einer Höhle aus grünem, weichem Samt sehnte, in der es sich ausruhen konnte.
Vor lauter Begeisterung und Herzklopfen hatte ich Theo ganz vergessen. Als er mir wieder einfiel und ich mich umdrehte, stand er immer noch hinter mir. Ich war überrascht. Seit Mila die Bühne betreten hatte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Mila hatte Theo also auch in ihren Bann gezogen. Ich war stol z – stolz, dass ich ihn überredet hatte, mit mir hierherzukommen.
Nur leider begann Mila in diesem Augenblick, sich zu verabschieden.
»Wir sehen uns wieder, wenn ihr wollt.« Mila machte einen Knicks, der nicht zu ihren Stiefeln passte. »Und wenn ich will.« Sie grinste. »Und wenn Werner will.« Mila grinste wieder und streckte uns eine gerissene Saite entgegen. Bis eben hatte ich nicht mal bemerkt, dass si e – seit wann auch imme r – nur auf fünf Saiten gespielt hatte. Milas Gitarre hatte einen Namen? Ihre Gitarre hieß Werner? Die Leute lachten und applaudierten. Ich klatschte mit und ich glaube, sogar Theo hat geklatscht. Aber es nützte nichts. Mila verbeugte sich und lächelte. »Ich wünsche euch einen Abend voller Wunder.«
Mila guckte noch einmal mitten hinein in den roten Scheinwerfer, so als wollte sie ein letztes Mal tief Luft holen, bevor sie untertauchte. Dann nahm sie Werner und war in wenigen Sekunden im Gewühl verschwunden. Ein paar Jungs betraten schnurstracks die Bühne und improvisierten a cappella über den anhaltenden Applaus für Mila hinweg »Ain’t no sunshine when she’s gone«. Ein schönes Kompliment.
Ich klatschte noch ein bisschen weiter, bis mir die Hände wehtaten. Da hörte ich Theo sagen: »Ich hol mir mal ein Autogramm von Mila Superstar.«
Ich drehte mich um und dachte, das wäre wieder einer seiner Scherze, aber da lief Theo auch schon los. Richtung Bar? Nein. Richtung Bühne. Und weg war er. Genau wie an Silvester. Kacke.
Eigentlich hätte ich mich nie getraut, zur Bühne zu gehen, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich wahrscheinlich meinen Mitbewohner dort treffen würde. Natürlich hätte ich Mila gern noch einmal ausführlich Hallo gesagt, aber komischerweise schien sie für mich vollkommen unerreichbar, sobald sie aufhörte zu singen.
Bestimmt kannte sie die Hälfte der Leute in der Katze und vor allem kannte diese Hälfte Mila. Welchen Grund hätte dieses tolle Mädchen also haben sollen, sich ausgerechnet mit mir zu unterhalten? Und was hätte ich auch sagen sollen, wenn ich endlich an der Reihe gewesen wäre? Außer den Dingen, die sie ohnehin jeden Abend hörte? Du machst schöne Musik. Du hast eine tolle Stimme. Deine Gitarre heißt Werner? Zu Mila musste man irgendwas Wichtiges sagen.
»Schwarz?«
Ja, genau. Nach diesem Wort hatte ich gesucht. Und Theo hatte es gefunden.
Mila saß am Rand der Bühne, die Beine übereinandergeschlagen, guckte ihn an und nickte.
Theo lief los und stieß mit mir zusammen.
»Auch ’n Tee?«, war das Einzige, was er zu mir sagte, und ich schüttelte bloß den Kopf. Rhetorische Fragen beantworte ich am liebsten.
Theo verschwand und ich schaute Mila an. Mila schaute zurück und lächelte kurz. Dann schaute sie weg, strich ihrer Gitarre über die gerissene Saite und legte sie vorsichtig in den Koffer. Ich war mir nicht sicher, ob ich Mila und Werner in ihrer trauten Zweisamkeit stören durfte, aber dann saß ich schon auf dem
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