Milas Lied
stellte ihn vor mir auf den Tisch.
Da tat er mir plötzlich leid. Irgendwie sah er in diesem Moment aus wie der einsamste Theo der Welt. In seinen komischen karierten Pantoffeln und seinen Tennissocken und seiner Jogginghose. Wie ein einsamer alter Mann, der sich Spiegeleier briet.
Dann legte er sich die Spiegeleier, die an den Enden zusammengepappt waren, auf den Teller, ging zum Kühlschrank, holte etwas heraus, kam zu mir und legte mir ein rohes Ei auf den Teller.
»Pfanne ist noch heiß.«
Da tat er mir überhaupt nicht mehr leid.
Aber ich hatte ein Ass im Ärmel. Eines, das tausendmal besser duftete als Speck und Eier.
»Ich treff mich gleich mit Mila«, verkündete ich und legte das Ei vorsichtig in unsere Obstschale, in der noch nie Obst gelegen hatte. Ab und zu eine Tüte Gummibärchen, aber die waren ja fast schon Obst.
»Hm«, schmatzte Theo, schnitt ein Spiegelei aus seinen Spiegeleidrillingen und warf es mir auf den Teller.
Als ich in der Ringbahn saß, die zum Ostkreuz fuhr, versuchte ich, mich nicht aufs Zählen der Haltestellen zu konzentrieren. Ich versuchte, überhaupt nichts zu zählen, was mir wirklich schwer fiel. Wenn ich aus unserem Kuhkaff mit dem Bus in die Stadt gefahren war, hatte ich immer Sachen gezählt, um die Zeit totzuschlagen. Rehe, Hasen, Hochsitze. Irgendwann kannte ich alle Hochsitze auswendig. Es waren elf. Wenn man genau weiß, wie lange etwas Blödes dauert, bis etwas Tolles passiert, dauert es hundertmal so lang.
Ich hätte mein Wissen über die Hochsitze gern mit den Rehen und den Hasen geteilt. Aber vermutlich hätte es sie auch nicht davon abgehalten, sich Abend für Abend auf ihrer geliebten Lichtung zu treffen. Ist doch immer dasselbe: Kaum hat man erkannt, wie toll etwas ist, dauert es nur einen Wimpernschlag, bis es knallt.
Am Ostkreuz lief ein großer schlanker Typ vor mir die Treppen hoch, der Robert aus der Schweiz zum Verwechseln ähnlich sah. Er trug denselben Rucksack und unter seiner Mütze kringelten sich jede Menge blonder Locken. Ich zuckte kurz zusammen und verlangsamte meinen Schritt, aber da verschwand er auch schon wieder im Gewusel der Leute und in einem Wirrwarr aus provisorisch zusammengezimmerten Treppenschächten, die weniger ein Kreuz, als ein Labyrinth bildeten.
In Berlin merkte man nie wann Montag oder Freitag oder Sonntag war. Eigentlich war Berlin eine Stadt ohne Sonntag. Was ich gut fand. Genau genommen gab es hier nicht einmal richtige Tageszeiten. In den meisten Cafés konnte man bis nachmittags oder abends Frühstück bestellen, ohne schief angesehen zu werden, und dank der vielen Spätshops konnte man sich vierundzwanzig Stunden am Tag einen Eisbergsalat kaufen oder ein Glas Würstchen oder Pflanzgranulat oder Lakritzschnecken oder Schokolade.
Das einzige Naturereignis, dem diese Stadt hoffnungslos ausgeliefert zu sein schien, war der Winter. Eine bitterkalte Version von Winter.
Ich schlitterte über die völlig vereiste Brücke an der Warschauer Straße, tappte vorsichtig die glatten Stufen zum Bahnsteig hinunter und erwischte gerade noch die U-Bahn, die abfahrbereit am Gleis stand. Zum Görlitzer Bahnhof.
Ungeduldig hielt ich Ausschau nach ihrer Mütze, trat von einem Bein auf das andere, um nicht versehentlich festzufrieren. Hatte ich mich vielleicht doch verhört? Hatte Mila sich vielleicht gar nicht mit mir treffen wollen?
Erst vor ein paar Stunden war ich genau an dieser Haltestelle eingestiegen, aber jetzt war die Kreuzung voller Autos. Im Schneckentempo krochen sie über die Straße. Und es fielen keine kuscheligen Frau-Holle-Flocken mehr. Wie ein großes, graues Zelt spannte sich der Himmel über mir, nicht ein einziges winziges Flöckchen wollte er ausspucken. Oder zwei oder drei oder elf.
Da tippte mir jemand auf die Schulter.
»Wartest du schon lange?«
Ich drehte mich um. Milas Wangen waren fast so rot wie ihre Mütze.
»Hallo, Mila!« Und dann fiel mir auf, dass sie bei Tageslicht noch viel kleiner und zierlicher wirkte als in U-Bahnen und Bars. Als könnte sie Gedanken lesen und als wollte sie mir das Gegenteil beweisen, setzte sie ein schelmisches Grinsen auf und das Funkeln in ihren Augen ließ sie sofort ein paar Zentimeter wachsen.
»Ist dir kalt?«, fragte sie, ohne eine Antwort abzuwarten. »Gehen wir ein Stück, dann wird dir warm.«
Im Görlitzer Park wimmelte es von Schlitten in allen Farben, Größen und Formen. Als ich die sanft geschwungenen Hügelchen sah, die die Kinder kreischend
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