Milchbart (German Edition)
uns nichts überstürzen. Vielleicht ist es besser zu warten, bis deine eigene Erinnerung an alles zurückkehrt.«
Aber die Erinnerung kehrte nicht zurück. Es tat sich einfach nichts. Nicht an diesem Tag, nicht am nächsten und auch nicht am übernächsten. Leni kam und ging. Der Mann, den sie Sprudel genannt hatte, saß meist auf dem Stuhl an der Wand und wirkte von Tag zu Tag elender.
Inzwischen hatte Leni drei Rückflüge nach Deutschland organisiert. Fanni wurde in eine der Münchner Unikliniken eingeliefert, wo man ihr nach etlichen Untersuchungen bestätigte, dass sie körperlich keinen Schaden davongetragen habe. Wovon, darüber wurde sie nur vage informiert.
Kurz vor ihrer Entlassung aus der Uniklinik machte man sie mit Dr. Wein bekannt.
Nachdem der Neurologe verdeutlicht hatte, dass es eher hinderlich sei, Fanni über die vergessenen sechs Jahre im Unklaren zu lassen, nahm es Leni auf sich, ihre Mutter genau ins Bild zu setzen.
Sie begann mit den jüngsten Ereignissen und erzählte Fanni jede Einzelheit, so wie sie rekonstruiert oder von Sprudel berichtet worden war.
»Man mag es kaum glauben«, sagte Leni, als sie zum Ende ihrer Schilderung gekommen war, »wie abgefeimt diese Person gewesen ist. Beinahe hätte sie es geschafft, euch tatsächlich den Garaus zu machen. Als du mit dem Kopf auf den Boden aufgeschlagen bist und Sprudel kein Lebenszeichen mehr von sich gab, dachte sie wohl, ihr Plan wäre aufgegangen. Aber zum Glück ist Sprudel zu sich gekommen, bevor dir der Todesstoß versetzt werden konnte.«
»Im Foyer schwirrt die Botschaft herum, dass man heute Vormittag eine Therapeutin der Parkklinik ermordet aufgefunden hat«, sagte Sprudel, als er und Fanni ins Freie traten und den von niedrigen Lampen beleuchteten Weg einschlugen.
»Schwirrt sie nicht schon den ganzen Tag aus dem Radio?«, fragte Fanni.
Sprudel zuckte die Schultern. »Hatte ich nicht eingeschaltet.«
»Wer hat denn im Foyer von dem Mord gesprochen?«, erkundigte sich Fanni.
Darüber musste Sprudel einen Moment nachdenken. »Schwester Rosa«, antwortete er dann. »Ja, so heißt sie. An der Bluse steckte ein Namensschild. Sie kam aus dem Speisesaal und hat sich im Foyer mit zwei Frauen unterhalten. Dabei habe ich dies und das mitbekommen.«
»Vor allem den Namen ›Fanni Rot‹, nehme ich an«, sagte Fanni.
Sprudel verhielt den Schritt und sah sie erschrocken an. »Hast etwa du die Leiche gefunden?«
»Nicht nur das«, erwiderte Fanni. »Wenn es nach den Indizien geht, müsste ich sogar die Täterin sein.«
Sprudel war endgültig stehen geblieben. Er wandte sich ihr zu, legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie fast flehend an. »Fanni, sag bitte, dass du nicht schon wieder mitten in einem Mordfall steckst.«
»Es wäre eine Lüge«, antwortete Fanni, nahm ihn am Arm und zog ihn weiter.
Während sie an dem kleinen Teich entlanggingen, in dem sich etliche der Lämpchen spiegelten, was die Schatten der Büsche und Bäume umso schärfer und schwärzer hervortreten ließ, begann Fanni zu berichten, was sich ereignet hatte.
»Nicht zu glauben«, sagte Sprudel. Er war wieder stehen geblieben, weil sie das Ende des Parks erreicht hatten. Außerhalb des beleuchteten Areals herrschte tiefste Dunkelheit.
Fanni drehte sich um und schickte sich an, den Rückweg einzuschlagen. So hatten sie es bisher immer gemacht. Sie waren bis zum äußersten Lichtkreis der letzten Laterne gewandert, dann waren sie umgekehrt, zum Klinikgebäude zurückgegangen und von dort wieder durch den Park bis zur Grenze der Dunkelheit, immer hin und her. Eine andere Wahl hatten sie nicht, weil Sprudel ausschließlich in den Abendstunden zu Besuch kam.
Fannis Vormittage waren dicht angefüllt mit diversen Einzel- und Gruppentherapien, mit Gymnastik- und Yogastunden und den Ruhepausen, die dazwischen obligatorisch waren, sodass keine Zeit blieb, Besucher zu empfangen. Und die wenigen freien Nachmittagsstunden – laut Professor Hornschuh sollten sie der Erholung dienen – beanspruchte Hans Rot.
Fraglos konnte er die älteren Rechte geltend machen. Und zudem war er, Scheidungsvereinbarung hin oder her, noch immer Fannis Ehemann.
Als Fanni nach ein paar Schritten merkte, dass Sprudel nicht aufholte, schaute sie sich verwundert um. Er stand noch immer am Rand des Lichtkreises und kramte in den Taschen seiner recht schicken Sportjacke.
Sieht er nicht gut aus? Viel schlanker als Hans Rot, der einen Bierbauch angesetzt hat, mittlerweile eine
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