Milchbart (German Edition)
hervorrief. Weshalb? Was erwartete er denn? Er hatte doch nur die Prämisse wiederholt, von der sie schon die ganze Zeit redete.
Sprudel klang ein bisschen niedergeschlagen, als er weitersprach: »Aus Hypothese A folgt, dass wir nach einem Täter suchen, der eigentlich gar nicht am Tatort gewesen sein kann, wie du zuvor anschaulich dargelegt hast.«
»Trotzdem gehen wir davon aus, dass er dort war«, entgegnete Fanni entschieden. »Auch wenn wir keine Ahnung haben, wie er hin- und wieder weggekommen ist.«
Und keinen Schimmer, wie sich das herauskriegen ließe!
Fanni gab ein leises Schnauben von sich.
Sprudel neigte sich ihr zu, als habe sie etwas hinzugefügt, das er nicht verstanden hatte.
»Wer weiß, was sich findet«, sagte Fanni. »Lass uns einfach alles, was wir an Informationen bekommen, zusammentragen. Dann sehen wir weiter.«
Sie waren am Eingang der Parkklinik angekommen und traten durch die Glastür, die sich mit einem Zischen automatisch für sie geöffnet hatte.
Im Foyer trafen sie auf Schwester Rosa.
»Da sind Sie ja, Frau Rot. Ich habe mir bereits Sorgen um Sie gemacht, es ist ja schon fast zehn«, sagte sie mit hörbarem Vorwurf in der Stimme und sah Sprudel mit einem Blick an, der ein laut ausgesprochenes »Raus jetzt, aber flott« komplett überflüssig machte.
Sämtliche Patienten der Parkklinik waren gemäß der hier geltenden Hausordnung dazu verpflichtet, bis spätestens zweiundzwanzig Uhr ins Gebäude zurückzukehren. Ab diesem Zeitpunkt durften auch keine Besucher mehr empfangen werden.
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Schwester Rosa fort: »Haben Sie draußen im Park nach etwas gesucht? Ist etwa einer Ihrer hübschen Ohrringe verloren gegangen?«
Bevor Fanni ihrer Verwunderung über die Frage Ausdruck geben konnte, fiel ihr Blick auf Sprudel, der seine Stirnlampe abnahm, den winzigen Kippschalter betätigte und sie in seine Jackentasche gleiten ließ.
Fanni verbiss sich ein Grinsen. Da hatten sie doch beim Betreten der Klinik glatt vergessen, die Lampen abzunehmen und auszuschalten.
Als sie ebenfalls nach ihrer Stirnlampe griff und die Finger unter das Gummiband schlüpfen ließ, an dem der Leuchtkörper befestigt war, bemerkte sie, dass tatsächlich ihr linker Ohrring fehlte. Sie musste ihn am Rand des Parks verloren haben, wo sie die Lampe übergestreift hatte. Nun gut, sie würde morgen bei Tageslicht danach suchen.
Obwohl Sprudel die Hand danach ausstreckte, verwahrte Fanni die Stirnlampe, die er ihr im Park gegeben hatte, in ihrer eigenen Jackentasche. Er lächelte ihr einwilligend zu und zog seine Hand wieder zurück.
»Nun sollten wir aber fix der Hausordnung Folge leisten«, sagte Schwester Rosa.
Aha, jetzt verlegen wir uns wieder auf die Verbrüderungstour!
Fanni nickte gehorsam, dann wartete sie darauf, dass sich Schwester Rosa auf Takt und Diskretion besann und sich entfernte, um ihr und Sprudel Gelegenheit zu geben, sich voneinander zu verabschieden.
Aber Schwester Rosa stand da wie einzementiert.
Da sagte sich Fanni, dass es wohl am vernünftigsten war, Sprudel mit einem förmlichen »Gute Nacht« die Hand zu reichen. Dabei blinzelte sie ihm jedoch verschwörerisch zu.
Sprudel nahm ihre Hand in die seine und drückte sie sanft. Doch anstatt sie daraufhin sofort wieder loszulassen, hob er sie an sein Gesicht und legte sie an seine Wange. Die Geste wirkte so fürsorglich, so liebevoll, dass Fanni die Tränen in die Augen schossen.
Sie riss sich los und stürmte die Treppe hinauf.
»Wir sollten heute ein leichtes Schlafmittel einnehmen«, sagte Schwester Rosa, die ihr gefolgt war. »Der Tag hat viel zu viele Aufregungen gebracht, als dass sich schnell ein wohltuender Schlaf einstellen könnte.«
Erneut nickte Fanni gehorsam. Sollte doch Schwester Rosa auf dem Nachttisch Pülverchen zurücklassen, so viel sie wollte, Fanni würde beim Zubettgehen selbst entscheiden, ob sie eines davon einnahm oder nicht.
Wohl eher nicht!
Fanni warf einen Blick auf die Packung, die Schwester Rosa in Händen hielt. Tavor. Nein, wohl eher nicht.
Ein leichtes Schlafmittel, sagt sie! Die lügt ja dreister als Gollum! So eine Pille setzt dich gut vierundzwanzig Stunden außer Gefecht!
Ob stark oder leicht, spielt keine Rolle, dachte Fanni. Auf solch chemisches Zeug verzichte ich besser.
Fannis Vorliebe galt seit Jahrzehnten den Globuli der Homöopathie, den Tinkturen der Pflanzenheilkunde und den alten Hausmitteln. Für Produkte der Pharmaindustrie entschied sie sich nur
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