Milchbart (German Edition)
Augen, als müsse er Tränen zurückdrängen. »Gerade sie als Therapeutin hätte doch wissen müssen, dass ihre … ihre Experimente keinen Erfolg haben konnten. Aber in Bezug auf Tillmans Neigung zeigte sie sich kompromisslos, halsstarrig – geradezu verbohrt. Was Tillman betraf, hat sie sich über sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse und Lehren hinweggesetzt. Letztendlich ist es ihr gelungen, Tillman zu vertreiben.«
»Aber jetzt ist er zurückgekommen«, sagte Fanni.
»Weil er glaubte, er und Marita könnten einen Neuanfang machen«, erwiderte Seibold aufschäumend. »Tillman hat gehofft, seine Mutter sei endlich toleranter, klüger, einsichtiger geworden. Aber die Erziehung, die sie genossen hat, ließ ihr vermutlich keine Wahl.«
»Sie stehen dem jungen Mann wohl sehr nahe?«, fragte Fanni.
»Wir haben uns viel miteinander unterhalten«, antwortete Seibold. »Ich wollte ihm helfen. Und ich wollte Marita von dem Irrsinn abbringen, ein Zerstörungswerk anzurichten.«
Eventuell mit Hilfe einer Drahtschlinge? Wer sagt eigentlich, dass die Schlinge aus Draht gewesen sein muss?
Seibold hatte sich auf der Fensterbank niedergelassen, und Fanni tat es ihm gleich.
»Die Situation hat sich immer mehr zugespitzt«, fuhr er fort. »Marita und ich haben uns zusehends entfremdet. Sie wurde von Tag zu Tag verbitterter. Ich habe mir eingestehen müssen, dass es am besten wäre, wenn Tillman wieder fortgehen würde. Aber wie hätte man das von ihm verlangen können? Er hatte in der Forsthausruine einen Platz gefunden, an dem er glücklich war.«
»Halten Sie es nicht auch für naheliegend, dass der Mord an Ihrer Frau mit alldem zu tun hat?«, fragte Fanni unumwunden.
Seibold zog die Stirn in grimmige Falten. »Schlagen Sie sich einen solchen Verdacht aus dem Kopf. Tillman hätte seiner Mutter nie etwas antun können.« Er glättete die Falten, indem er ein paarmal mit der Hand darüberstrich. »Soweit ich das sehe, muss dieser Patient, den alle Milchbart nennen, der Mörder sein. Man scheint den Grad seiner psychischen Erkrankung gefährlich unterschätzt zu haben.«
Fanni entschied sich für ein zustimmendes Nicken, um dann zu fragen: »Ist Alexander gestern zu Ihnen ins Büro gekommen?«
»Ist er nicht«, erwiderte Seibold bestimmt. »Pauß ist noch nie in meinem Büro gewesen. Ich kenne ihn allerdings von Begegnungen auf dem Flur und habe hin und wieder von ihm reden hören. Nicht viel Gutes, muss ich zugeben.«
»Sicherlich gehen bei Ihnen eine Menge Leute aus und ein«, sagte Fanni.
Seibold sah sie konsterniert an, tat ihr aber den Gefallen, zu antworten. »Der Hausmeister, die Putzfrau, ab und zu ein Patient wegen der Abrechnung mit der Krankenkasse oder um ein Formular zu unterschreiben.«
»So wie Michaela Kofler heute Morgen.«
»So wie Michaela Kofler heute Morgen«, wiederholte Seibold und wirkte irgendwie aus dem Konzept gebracht.
Fanni ließ ein Glucksen hören. »Ah, Herr Seibold, bei Ihrer Aufzählung haben Sie den Professor ja ganz vergessen. Muss er nicht durch Ihr Büro, um in seines zu gelangen?«
Seibold wirkte etwas zerstreut, als er antwortete: »Professor Hornschuh, ja, natürlich. Er kommt und geht, kommt und geht …«
»Bertie«, tönte es plötzlich vom anderen Ende des Flurs her. »Du bist ja immer noch da. Wolltest du nicht längst weg sein? Wolltest du dich nicht um Maritas Beerdigung kümmern?«
Schwester Rosa eilte auf sie zu und trat zu ihnen ans Fenster. »Irgendwann muss Maritas Leiche ja freigegeben werden, bis dahin sollte alles geregelt sein. Und Sie, Frau Rot«, wandte sie sich an Fanni, »sollten vor dem Abendessen wenigstens noch die zehnminütige Entspannungsübung mitmachen, wenn Sie schon die Qigongstunde am Nachmittag geschwänzt haben.«
Fanni schluckte die Rüge hinunter und wandte sich an Seibold. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so lange aufgehalten habe.«
Er lächelte ihr verhalten zu. »Das Gespräch mit Ihnen war sehr anregend.«
Das wird Gollum aber ganz bestimmt nicht gefallen!
Fanni zog es vor, sich Schwester Rosas Kommentar zu ersparen, und eilte davon.
Sie verließ den Verwaltungstrakt, schritt durch die Glastür, die ihn vom übrigen Gebäude trennte. Als sie den Flur passierte, der zum Foyer und zur Treppe führte, kam sie an Marita Bogners Zimmer vorbei.
Unvermittelt blieb Fanni stehen. Mit einem Blick nach links und einem zweiten nach rechts vergewisserte sie sich, dass niemand in der Nähe war. Dann trat sie an die amtlich
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