Milchbart (German Edition)
versiegelte Tür heran und betrachtete eingehend den schmalen Streifen, der zur Hälfte auf der Tür und zur anderen Hälfte am Türrahmen klebte.
Du wirst ja wohl nicht ein Polizeisiegel brechen wollen?
Doch, dachte Fanni. Weil ich herausfinden muss, wie der Täter in diesen Raum hinein- und wieder herausgeschlüpft ist. Wenn wir nämlich nicht bald dahinterkommen, geht Alexander ins Gefängnis – oder, was viel wahrscheinlicher ist, ich.
Und Fanni Rot wird natürlich auf einen Blick sehen, was den Ermittlern trotz zweifellos eingehender Untersuchungen entgangen ist!
Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Fanni wandte sich von der versiegelten Tür ab und setzte geschwind ihren Weg zu den Patientenzimmern fort.
Willst du den Einbruch etwa in den Nachtstunden begehen?
Wann sonst?
Pflichtschuldigst erschien Fanni um fünf zur Entspannungsübung. Sie hoffte, Alexander anzutreffen und ihn noch vor dem Abendessen auf ein paar Worte beiseitenehmen zu können.
Sieht nicht so aus, als hättest du die geringste Chance, an Milchbart heranzukommen!
Stimmt, dachte Fanni. Michaela weicht kaum von seiner Seite.
Oder er nicht von ihrer! Schwer zu entscheiden! Jedenfalls sitzen sie neuerdings beim Essen gemeinsam an einem Tisch, schieben im Gymnastikraum ihre Matten so nah aneinander, dass kein Schnürsenkel mehr dazwischenpasst, und turteln auf dem Chesterfieldsofa im Foyer!
Nach der Entspannungsübung waren die beiden weg, bevor Fanni auf die Füße kam.
Sie ging nur kurz auf ihr Zimmer, um sich die Hände zu waschen, und eilte dann hinunter ins Foyer, weil sie hoffte, Alexander abfangen zu können, bevor er den Speiseraum betrat. Während die anderen Patienten bereits hineinströmten, drückte sie sich im Foyer herum. Endlich sah sie Alexander die Treppe herunterkommen.
In Michaelas Begleitung, wie gehabt! Da hast du eindeutig das Nachsehen!
Fanni entschied, Alexander um ein Gespräch unter vier Augen zu bitten, kam jedoch nicht dazu.
»Aber Frau Rot, Herr Pauß, die Suppe wird schon aufgetragen.« Schwester Rosa legte Fanni die Hand auf den Rücken und schob sie vorwärts.
Wenn die so weitermacht, läuft sie Gollum in puncto Herumspionieren den Rang ab!
Während des Essens saß Fanni neben Irma Braun. Ihnen beiden gegenüber hatten Michaela und Alexander Platz genommen.
Fanni ließ die Debatte über die Höhen und Tiefen im Leben von Amy Winehouse an sich vorbeirieseln. Sie konnte sich nicht erinnern, je von dieser britischen Soulsängerin gehört zu haben, die offenbar mit nur siebenundzwanzig Jahren verstorben war.
Der Professor machte die abendliche Runde, hielt sich jedoch nur am Tisch von Elvira Kübler und Franz Karg länger auf, als sein stereotypes »Guten Appetit, alles in Ordnung bei Ihnen?« in Anspruch nehmen konnte.
Scheint bitterernst zu sein, was er zu der Klunkerlady sagt!
Ja, dachte Fanni, zwischen den Brauen des Professors steht eine steile Falte, und Frau Kübler wirkt wie vor den Kopf geschlagen.
Womöglich macht er sie darauf aufmerksam, dass sie wieder einmal über und über mit Schmuck behängt ist! Vielleicht ist genau das ihre Marotte: Sie hält sich für einen Weihnachtsbaum!
Wahrscheinlicher ist wohl, dachte Fanni, dass er ihr Vorhaltungen wegen ihres Lebenswandels macht, sollte er etwas davon mitbekommen haben.
Kaum waren die Dessertteller leer, sprang Michaela auf. »Eine Runde Tischtennis im Glasanbau. Wer macht mit?«
Fanni ging auf ihr Zimmer.
Sie schaltete den Laptop ein, um nachzusehen, ob Leni eine E-Mail geschickt hatte.
Im Posteingang fand sich tatsächlich eine Nachricht. Als Fanni sie öffnete, stellte sie erfreut fest, dass Leni nicht nur ein paar Zeilen, sondern eine ganze Seite geschrieben hatte. Gespannt nahm sie an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer Platz, setzte die Brille auf und begann zu lesen.
Leni schrieb, wie geplant hätten sie und Marco einen Zwischenstopp in Chile eingelegt, bevor sie nach Argentinien weiterreisen würden. Momentan befänden sie sich in der Salzwüste Uyuni und wohnten in dem Hotel Tayka de Sal, das ganz aus Salzblöcken gebaut war: »… am Rande der Wüste liegt das Dorf Tahua, dahinter erhebt sich der Vulkan Tunupa …«
Ein Klingelton ließ Fanni aufschrecken. Sie musste ein paar Augenblicke lang nachsinnen, bis ihr klar wurde, dass er von ihrem Handy kam. Bevor sie in die Parkklinik übergesiedelt war, hatte sie ihren Kindern, Hans Rot und auch Sprudel versprochen, es tagsüber eingeschaltet zu lassen. Bisher hatte sie
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