Milchbart (German Edition)
Pietät …«
»Kein Schiss«, vervollständigte Jonas.
Fanni umklammerte den Stick. »Ich wette, du schreckst nicht einmal davor zurück, dich in fremde Computer zu hacken.«
Jonas grinste und machte eine Geste, die Fanni im Sinne von »Eine meiner leichtesten Übungen« interpretierte. Rasch nahm sie die Hand aus der Tasche und präsentierte Jonas den Stick.
»Ich hätte da eine Herausforderung für dich.«
Jonas zog die Brauen hoch. »Passwortgeschützt?«
»Scheint so«, antwortete Fanni.
Jonas sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Sie haben vergessen …«
Fanni ließ ihn nicht ausreden. »Alles, was damit zusammenhängt.«
Jonas griff nach dem Stick. »Ich werde Sie doch nicht hängen lassen, Frau Rot. Klar helfe ich Ihnen, die blanken Stellen in Ihrem Hirn wieder zu beschriften.«
Während der Fahrt zur Klinik gab sich Hans wortkarg, wogegen Fanni nichts hatte, weil sie ohnehin lieber ihren eigenen Gedanken nachhing.
Erst als er den Wagen vor dem Eingangsportal zum Stehen brachte, sagte er in deutlich abfälligem Ton: »Dein Nachmittagsprogramm hat anscheinend längst begonnen.« Das Wort »Nachmittagsprogramm« klang aus seinem Mund, als würde er »Hundekacke am Schuh« oder »Katzenscheiße in der Einkaufstasche« sagen.
Fanni verzichtete darauf, auf die Bemerkung einzugehen. Stattdessen bedankte sie sich bei ihm dafür, dass er für sie gekocht hatte, und wünschte ihm einen schönen Nachmittag.
Nachdem sie ausgestiegen war und versonnen zugesehen hatte, wie er den Wagen wendete und davonfuhr, ging ihr auf, was Hans gemeint hatte, als er sagte, das Nachmittagsprogramm hätte bereits begonnen.
Der Eingangsbereich der Klinik ebenso wie die Zugangswege und auch der Park waren – soweit Fanni sehen konnte – menschenleer.
Kein Wunder! Einerseits befinden sich schon alle in den Behandlungsräumen, Gymnastiksälen und so weiter. Andererseits solltest du dich fragen, weshalb es am frühen Nachmittag plötzlich so dämmrig wird. Die Antwort darauf könnte dir übrigens ein Blick zum Himmel geben!
Graupelschauer, dachte Fanni, als sie zu den schwarzen Wolken hinaufschaute, die offenbar rasant aufgezogen waren. Solch geballte Schwärze mit gelbstichigem Hintergrund bringt einen kräftigen frühwinterlichen Schneesturm.
Sie wollte schon nach drinnen flüchten, doch dann überlegte sie es sich anders. Wetter hin oder her, sie wollte ein paar Schritte laufen, um den Kopf klarzubekommen.
Kluge Entscheidung, vor der Denkarbeit noch ein wenig Luft zu schnappen. Die Gehirnzellen brauchen Sauerstoff, um effizient tätig werden zu können!
»Klugscheißer«, brummte Fanni.
Sie schlang sich den Schal, der lose über der Jacke hing, doppelt um den Hals, stellte den Kragen auf und zog sich die Mütze, die sie stets in einer der Taschen stecken hatte, über die Ohren. Dann stiefelte sie resolut in den Park hinein.
Auf dem Teich hatte sich über Nacht eine dünne Eisschicht gebildet, von der Nebelschwaden aufstiegen, die ein stürmischer Windstoß wie Tücher hin- und herwehen ließ. Die nächste scharfe Böe brachte die ersten Graupel mit, vermischte sie mit den Nebelfetzen zu einem trüben Gebräu.
Fanni blieb am Ufer stehen und starrte auf die verzerrten Spiegelungen im Eis.
Ringsherum knackte und knarzte es in den Bäumen. Von irgendwoher war ein Knistern und Prasseln zu vernehmen.
Das sind die abgestorbenen Äste, die der Sturm aus den Baumkronen bläst und dann einfach fallen lässt, dachte Fanni.
Als die Böe kurz abflaute, glaubte sie, hinter sich Schritte zu hören, kümmerte sich jedoch nicht darum.
Beim nächsten Windstoß begann sie zu frösteln und fühlte auf einmal, wie kalt ihre Füße geworden waren.
Jetzt aber marsch, marsch in die gute Stube!
Marsch, marsch, äffte Fanni ihre Gedankenstimme nach und wollte sich vom Wasser abwenden, um zum Klinikgebäude zurückzugehen.
Im selben Augenblick spürte sie einen kraftvollen Stoß. Vom Schwung ihrer eigenen Drehung profitierend, beförderte er sie aufs Eis, das mit einem vielstimmigen Knirschen brach.
Bevor sich Fanni darüber klar wurde, dass sie mitten in den Teich gefallen war, hatte sich ihre Kleidung bereits mit Wasser vollgesogen und zog sie hinunter.
Verdammt! Tu doch was! Mach Schwimmbewegungen, damit du an die Oberfläche gelangst!
Fanni fing an, mit den Beinen zu strampeln und mit den Armen zu rudern.
So tief, ging es ihr trotz aufkeimender Panik durch den Sinn, kann das Gewässer doch gar nicht sein. Wenn ich mit den
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