Milchgeld: Kluftingers erster Fall
Kluftinger kannte den Jüngeren. Es war der Mann, der auf der Beerdigung vor ihm geflüchtet war.
Obwohl ihm der Schreck der plötzlichen Erkenntnis in alle Glieder gefahren war, obwohl die Hitze es ihm schwer machte, einen klaren Kopf zu behalten und obwohl ihm vor Aufregung plötzlich ganz schlecht war, versuchte er sich zu beherrschen und sagte so ruhig wie möglich: »Wer ist das auf diesem Bild?«
Die Frau nahm das Bild in die Hand und zwickte die Augen zusammen, sodass ihr Gesicht noch faltiger erschien. Obwohl sie das Bild, das bestimmt schon viele Jahre auf der Kommode stand, eigentlich genau kennen musste, holte sie seelenruhig eine Brille aus der Brusttasche ihrer Schürze, faltete sie umständlich mit einer Hand auf und betrachtete konzentriert das Foto. Dem Kommissar gelang es nur mit Mühe, seine Beherrschung nicht zu verlieren.
Maier hatte Kluftingers Aufregung bemerkt, war zu ihm getreten und blickte nun fragend zwischen dem Bild und Kluftinger hin und her. Kluftinger schüttelte den Kopf und bedeutete ihm so, die Frage, die ihm auf dem Herzen lag, vorerst für sich zu behalten. Maier blieb stumm und wartete gespannt auf die Antwort der Frau, auch wenn er nicht genau wusste, warum.
»Das sind der Robbi und der Andi«, sagte sie schließlich mit einem zufriedenen Lächeln, als hätte sie eine schwierige Quizfrage beantwortet.
»Robbi … Robert Lutzenberg?«, vergewisserte sich der Kommissar.
»Robert und Andreas Lutzenberg«, antwortete die Frau.
Kluftinger zog die Augenbrauen hoch. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er verstand: »Sie meinen, Herr Lutzenberg und sein Sohn?«
»Sicher. Wer soll das denn sonst sein? Ach der Andi«, seufzte die Alte, »der wollt’ doch eigentlich auch schon längst mal wieder vorbeikommen.«
»Haben sie vielleicht eine Adresse?«, fragte er und konnte seine Ungeduld nicht mehr verbergen.
»Moment«, sagte die Frau und ging zur Kommode. Während sie darin herumkramte, flüsterte Maier seinem Chef die Frage ins Ohr, die er vorher nicht stellen durfte: »Wer ist denn das auf dem Foto?«
»Der Mann vom Friedhof«, flüsterte Kluftinger zurück.
Jetzt bekam auch Maier große Augen.
»Da, das ist sie.« Die Frau reichte Maier einen Zettel, auf dem die Adresse in Sütterlin vermerkt war. Da Maier diese Schrift nicht entziffern konnte, reichte er die Notiz an Kluftinger weiter.
»Wir haben ihn«, sagte der und hob dabei den Zettel wie eine Trophäe in die Luft.
»Vielen Dank für alles, Frau Lutzenberg«, verabschiedete sich der Kommissar, ohne eine Erwiderung der Frau abzuwarten.
Die Wohnungstür hinter ihnen war noch nicht ins Schloss gefallen, da drückte Kluftinger seinem Kollegen den Autoschlüssel in die Hand: »Du fährst!« Sofort zückte er sein Handy, um die Kollegen in Kempten und Memmingen, wo sich laut der Notiz die Wohnung von Andreas Lutzenberg befand, zu verständigen. Sie waren noch nicht beim Ortsschild Weiler angelangt, da hatte Kluftinger sie bereits instruiert: Sie sollten sich unverzüglich zur Wohnung von Andreas Lutzenberg begeben und dort auf ihn warten.
»Ihr greift nur ein, wenn ihr das Gefühl habt, dass er abhaut«, rief er in sein Mobiltelefon. Erst dann drehte er das Beifahrerfenster herunter. Der kühle Fahrtwind wirkte auf den verschwitzten Kommissar wie eine Erlösung.
***
Es war gegen zwei Uhr, als Maier und Kluftinger in Memmingen eintrafen. Sie parkten am Polizeigebäude, um dort einen Memminger Kollegen aufzulesen, der ihnen den Weg zur Wohnung Lutzenbergs zeigen sollte. In der kurzen Zeit, die sie vor dem Komplex standen, bewunderte Kluftinger den Neubau, der ihn jedes Mal ein bisschen neidisch machte, wenn er daran vorbei fuhr. Er war vor ein paar Jahren bei der Einweihung schon einmal da gewesen und hatte sich vergewissern können, dass die Büros auch innen vom Feinsten waren. Alles hell und neu.
Ganz im Gegensatz zu ihren Räumlichkeiten in Kempten. Kluftinger war ja durchaus ein Freund von Brauntönen, aber ein bisschen weniger hätten es auch getan. Hier dagegen war alles in modernem Grau. Ganz besonders gefiel ihm das Kunstwerk, der stilisierte Polizeistern mit den stählernen Zacken, der auf der Wiese vor den Fenstern stand. Er verstand nichts von Kunst, aber wenn etwas Kunst war, dann das, da war er sicher.
Als der Kollege kam, stieg Kluftinger aus dem Wagen und ging ihm ein Stück entgegen.
»Schmied. Grüß Gott, Herr Kluftinger.«
»Schmied? Harald Schmied?« Kluftinger kannte die Stimme von
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