Milchgeld: Kluftingers erster Fall
das für den Sommer nicht zu heiß war: ein uraltes, ausgewaschenes Karohemd mit Stehkragen. Er streifte sich sein T-Shirt ab und ging nach draußen zum Brunnen, um sich zu waschen. Das Wasser weckte in ihm neue Lebensgeister. Als er sich erfrischt auf die Veranda setzte, fühlte er sich zum ersten Mal seit vielen Tagen wieder wohl. Er genoss die Aussicht: Nein, hier würden sie ihn nicht finden. Dieser Ort strahlte einen derartigen Frieden aus, er konnte nicht anders, als sich sicher zu fühlen. Er blickte zum Himmel: Dunkle Wolken zogen schon wieder auf. Es würde gleich wieder regnen, dachte er. In diesem Augenblick hörte er den Wagen.
***
»Wir haben vielleicht was.« Hefele winkte mit einem Blatt Papier, als er Kluftingers Büro betrat. Der Kommissar lief ihm entgegen. »Richard, Eugen, kommt Ihr?«, rief er ins Nebenzimmer.
»Es ist so«, holte Hefele aus und fuhr sich mit der Hand über seinen buschigen Schnauzer. Er genoss sichtlich den Auftritt, den ihm die Situation bescherte. »Es gab heute um die fragliche Zeit im ganzen Allgäu nur zwei Feuerwehreinsätze. Einer davon in Kaufbeuren, aber den können wir wohl vernachlässigen.«
»Wieso?«, fragte Kluftinger.
»Na ja, die haben da nur eine Katze vom Hausdach einer alten Frau geholt. Sirene haben sie dazu keine gebraucht«, grinste er und seine Lachfältchen gruben wieder tiefe Furchen um seine Augen. Als er jedoch bemerkte, dass seine Kollegen den Scherz gar nicht richtig wahrgenommen hatten, räusperte er sich und sprach weiter. »Also, bleibt nur noch ein Einsatz. Und jetzt ratet mal, wo der war?«
»Himmelherrgottsakrament. Du bist doch nicht der Günther Jauch. Jetzt sag’ gefälligst wo.« Kluftinger wurde ungeduldig, denn die Art, wie sich Hefele gebärdete, ließ darauf schließen, dass er eine gewichtige Information zu verkünden hatte.
»Schon gut, brauchst nicht gleich patzig zu werden«, erwiderte Hefele beleidigt. »Also, wo war ich stehen geblieben?«
Kluftinger kochte innerlich. Sein Gesicht bekam rote Flecken.
»Ach ja, genau. Also: Der zweite Einsatz war – und jetzt haltet euch fest – in Weiler.«
Die drei Kollegen machten große Augen. Hefele kostete dieses regungslose Erstaunen ein paar Sekunden aus, bevor er weiterredete: »Bei dem Einsatz war alles dabei: Zwei Löschfahrzeuge, Sirene – alles was dazu gehört. Sie mussten zu einer Scheune ausrücken. Ein Baum war mittenrein gekracht, weil dort nämlich …«
»… der Blitz eingeschlagen hat«, vollendete Kluftinger den Satz. Diesmal war es Hefele, der staunte. Er kratzte sich durch sein Kraushaar am Kopf. »Woher …?«
»Natürlich. Der Schlag, den es getan hat, als wir bei der alten Lutzenberg waren«, beantwortete Strobl die noch gar nicht zu Ende gestellte Frage. Dann holte er tief Luft und sein Mund stand ein paar Sekunden offen: »Meinst du, dass er noch …?«
»Genau das meine ich«, antwortete Kluftinger. »Wir müssen sofort los.« Er rannte aus der Tür und schnappte sich das Jackett, das am Kleiderständer hing. Nach ein paar Metern hielt er an, ging noch mal ins Büro zurück, schloss die unterste Schreibtischschublade auf und nahm seine Dienstwaffe samt Halfter heraus. Er hasste dieses Ding, aber es schien ihm angebracht, es jetzt zumindest mitzunehmen.
»Wo geht ihr denn jetzt eigentlich hin, ich weiß gar nicht, was los ist«, hörte er Maier hinter ihnen rufen.
»Keine Zeit zum Erklären«, gab Kluftinger zurück. »Kümmere dich schon mal um die Kiste, die wir mitgebracht haben.«
Dann waren sie um die Ecke verschwunden.
Maiers »Immer muss ich mich um irgendwelche blöden Kisten kümmern« konnten sie schon nicht mehr hören.
***
Als sie in den schmalen Waldweg einbogen, hatte es bereits heftig zu regnen begonnen. Dicke Tropfen platschten auf die Windschutzscheibe. Es war einer dieser Regengüsse, bei denen man, sofern man zu Hause war, immer sagte: Jetzt möchte ich nicht da draußen sein. Doch Kluftinger, der sonst, wenn die Naturgewalten sich so kraftvoll zeigten, gerne seine Frau mit den Worten »Jetzt schau dir bloß mal diesen Regen an!« ans Fenster rief, bemerkte den Niederschlag kaum. Er spielte versonnen mit dem Schlüssel zu Lutzenbergs Hütte. Die Alte hatte ihm dieses zweite Exemplar schließlich doch noch gegeben, nachdem er ihr eindringlich versichert hatte, dass ihr Neffe oder Großneffe oder was er auch immer war, ernsthaft in Gefahr sei und er ihm helfen wolle. Erst hatte Lina Lutzenberg noch etwas
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