Milchgeld: Kluftingers erster Fall
er sich auch unmöglich stellen. Er brauchte erst noch mehr Informationen.
Nachdem der dunkelgraue Passat aus seinem Sichtfeld verschwunden war, wartete er noch eine Stunde. Dann setzte er sich zu Fuß in Bewegung.
***
Kluftinger versuchte, sich während der ganzen Fahrt, das Telefongespräch genauestens in Erinnerung zu rufen. Jetzt wäre er froh gewesen, hätte Tonband-Maier einfach sein Gerät zurückspulen lassen und das Gesagte noch einmal zu hören gewesen. So aber war er auf sein Gedächtnis angewiesen. Ein Satz ging ihm nicht aus dem Kopf. Drängte sich immer wieder in seine Erinnerung, überlagerte die anderen Sätze. Zuerst hatte Kluftinger noch versucht, sich mehr auf die anderen Worte zu konzentrieren, die gesprochen worden waren. Er hatte geradezu das Gefühl, dieser Satz, der in seinem Kopf widerhallte, beeinträchtige die Erinnerung an den Rest der Unterhaltung. Doch dann vertraute er seinem Instinkt, der ihm zu sagen schien, dass dieser Satz besonders wichtig war: »Es ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint …«
»Wie bitte?«, fragte Strobl, weil Kluftinger die Worte halblaut ausgesprochen hatte.
»Was? Ach so … ›Es ist nichts so, wie es zunächst scheint‹ hat Lutzenberg am Telefon gesagt.«
»Klingt nach einer ziemlichen Binsenweisheit.«
»Das schon. Aber vielleicht wollte er uns auch irgendetwas damit sagen.«
»Was meinst du?«
»Ich weiß nicht. Dass wir etwas übersehen haben. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.« Die letzten Worte begleitete der Kommissar mit einem Fausthieb auf die Schachtel, die sie aus Lutzenbergs Zimmer mitgenommen hatten.
Strobl sagte nichts. Er hatte beide Hände am Lenkrad und blickte auf die Straße.
»Da war noch etwas. Aber es fällt mir nicht mehr ein. Irgendwas während des Gesprächs …« Kluftinger legte die Stirn in Falten.
»Etwas, was er gesagt hat?«, versuchte Strobl zu helfen.
»Ich … ich weiß nicht genau …«
***
Er schloss seine Faust fest um den Schlüssel in seiner Tasche. Allein der Griff um das kühle Metall ließ ein wenig seiner Sicherheit zurückkehren, während er den Weg zurück zu seinem Auto ging. Es beruhigte ihn, denn der Schlüssel war Symbol für sein Refugium, das ihm zumindest für den Rest des Tages und die Nacht etwas Ruhe verschaffen würde.
Dann musste er eine Entscheidung getroffen haben, darüber war er sich klar. Jede weitere Stunde würde ein zu großes Risiko bedeuten. Aber heute konnte er so noch einmal durchatmen.
Er lächelte: Seine Großtante wollte ihm gleich einen Tee machen und fragte ihn, ob er heute hier schlafen würde. Sie hatte es gut. In ihrer Welt bekam sie nichts mit von dem, was ihn plagte. Er hoffte nur, dass sie seine eindringliche Bitte, niemandem zu sagen, dass er hier war, ernst nehmen würde.
Wie gern würde ich jetzt in ihrer Welt leben, dachte er sich, als er in einen schmalen Feldweg einbog. Aber er hatte sich nun einmal entschieden. Immerhin hatte er die Sache losgetreten.
Hätte er Wachter nicht hinterherspioniert … Sein Lächeln erstarb. Hatte er richtig gehandelt? Hätte er nicht besser alles auf sich beruhen lassen? Er musste ja unbedingt den Racheengel spielen. Andererseits: Hätte er nichts getan, hätte es ihn aufgefressen. Kaputt gemacht, wie seinen Vater. Er war Zeuge seines Verfalls gewesen. Die Enttäuschung über Wächters Verrat – so nannte er es, auch wenn sein Vater dieses Wort nie in den Mund genommen hätte – saß einfach zu tief. Davon hatte sich sein Vater nie erholt. Dabei hätte er jederzeit etwas Neues anfangen können, denn – da war sich Andreas Lutzenberg sicher – sein Vater war der Kopf hinter dem viel gelobten Duo gewesen. Das zeigte allein die Tatsache, dass Wachter nie wieder mit einer vergleichbaren Entdeckung aufwarten konnte.
Wachter hatte vom Genie seines Vaters profitiert wie ein Parasit. Und davon, dass sein Vater ein verantwortungsbewusster Wissenschaftler war. Nicht so skrupellos wie Wachter. Er hatte gewusst, dass ihre Entwicklung Risiken barg. Hatte vor der Krebsgefahr gewarnt, das wusste Andreas Lutzenberg aus den wenigen Erzählungen seines Vaters über diese Zeit.
Doch das schnelle Geld hatte Wachter gelockt. Außerdem wollte die Molkerei, die die beiden für viel Geld eingekauft hatte Ergebnisse sehen. Also hatte er sich über die Bedenken seines Vaters hinweggesetzt und grünes Licht gegeben. Wie er die Kontrollen, die eigentlich notwendig gewesen wären, hatte umgehen können,
Weitere Kostenlose Bücher