Milchgeld: Kluftingers erster Fall
mich die anderen auch. Die wissen doch dann, wo ich bin. Verstehen Sie das nicht? Ich kann nicht zu Ihnen kommen, das ist völlig unmöglich!«
Die letzten Worte sagte er so laut, dass die Membran in Kluftingers Telefonhörer vibrierte.
»Welche anderen? Es hat doch keinen Sinn, Sie müssen ….«, Kluftinger überlegte kurz, ob er die Worte »sich stellen« benutzen sollte, fuhr dann aber fort: »… schnellstens zu uns kommen. Wir wissen alles. Ich habe Ihre Unterlagen gefunden.«
»Sie wissen nichts«, kam es nun leise und bitter aus dem Telefonhörer. »Wenn Sie alles wüssten ….« ein lautes Geräusch, das wie eine Sirene klang, ließ ihn kurz verstummen. Er musste laut sprechen, um den Krach zu übertönen: »Wenn sie alles wüssten, wären Sie nicht da, wo Sie jetzt sind. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint.« Dann hörte Kluftinger ein Knacken in der Leitung und es war still. Er blies hörbar die Luft aus: »Aufgelegt. Einfach aufgelegt.«
»Was hat er gesagt?«, drängte Strobl seinen Chef zu einer Auskunft.
»Dass wir nicht alles wissen. Er klang, als hätte er große Angst.«
Der Kommissar schüttelte den Kopf. Eben noch war alles so klar gewesen und nun verstand er überhaupt nichts mehr.
***
Andreas Lutzenberg legte den Hörer auf. Er atmete tief durch. Er zitterte. Er hatte er nicht damit gerechnet, dass die Polizei bei ihm in Weiler war. Er wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn. Schweißtropfen hatten sich gebildet. Was sollte er tun? Er konnte nicht nach Hause. Nicht nach Memmingen. Und in Weiler waren sie auch schon. Aber wo sollte er hin? Sie durften ihn nicht finden. Wenn sie ihn finden würden … Er schüttelte den Kopf … nicht auszudenken, was dann passieren würde.
Aber wo sollte er jetzt hin? Es gab nur eine Möglichkeit. Er nickte. Die Hütte. Dort würde er bleiben können, um sich über alles klar zu werden. Er brauchte Ruhe, musste nachdenken.
Die nächsten Schritte würden entscheidend sein. Er musste sie wohl überlegt tun. In seiner jetzigen Verfassung schien ihm das schwer möglich. Etwas Ruhe, ja, dann würde er wissen, was zu tun war. Dann würde das alles ein Ende haben. Er schob die Tür der Telefonzelle auf und trat nach draußen. Es hatte inzwischen angefangen zu regnen. Schwere, dicke Tropfen fielen auf den trockenen Asphalt. Lutzenberg atmete tief ein. Er mochte diesen Geruch nach frischem Sommerregen. Er bog seinen Kopf nach hinten und ließ sich den Regen ins Gesicht fallen. Das kühle Wasser tat ihm gut.
***
»Hat er Ihnen gesagt, wo er ist?«, wandte sich der Kommissar an Lina Lutzenberg.
»Nein, er hat nur ja den Telefonhörer aus der Hand gerissen«, entgegnete die Alte.
Sie hat gar nicht so Unrecht, dachte Kluftinger. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er sie einfach hätte reden lassen. Vielleicht wüsste er jetzt mehr. Vielleicht …
Der Kommissar ärgerte sich. Die Situation schien ihm verfahren. Wenn sie Lutzenberg auf der Spur gewesen waren, so würde der jetzt sicher vorsichtiger sein. Der Anruf hatte alles nur komplizierter gemacht.
»Chef?«
Strobls Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ihm war bewusst, dass sein Kollege gerade etwas gesagt hatte, aber er hatte es nicht wahrgenommen.
»Was?«
»Sollen wir fahren? Oder hast du eine Ahnung, wo er sein könnte? Meinst du, er ruft vielleicht wieder an?«
Kluftinger hatte keine Ahnung und er rechnete auch nicht mit einem erneuten Anruf.
»Lass uns fahren«, sagte er. »Und nimm die Sachen mit.«
***
Er konnte die beiden Beamten sehen. Von seinem Standpunkt aus hatte er einen guten Überblick. Er jedoch blieb unsichtbar. Einer der beiden trug etwas unter dem Arm. Das mussten seine Unterlagen sein, von denen der Kommissar am Telefon gesprochen hatte. Für einen kurzen Moment schoss ihm durch den Kopf, sich zu stellen. Aber er wischte den Gedanken schnell wieder weg. Sie würden ihn verantwortlich machen, das war ihm klar. Eigentlich schon lange, aber richtig bewusst geworden war es ihm erst nach der Beerdigung. Er wusste immer noch nicht, wer die alte Frau war, die den Kommissar bei der Trauerfeier auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Vielleicht hätte er souveräner reagieren sollen, vielleicht hatte sie ihn nur verwechselt. Aber seine Nerven waren mit ihm durchgegangen.
Deswegen war es nun auch so wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren. Zuviel stand auf dem Spiel; noch einmal würde er sich nicht so sinnlos in Gefahr begeben. Deswegen konnte
Weitere Kostenlose Bücher