Milchmond (German Edition)
bemerkte, wie ihre Zehen krabbelnd, suchend, an seinem Hosenbein empor krochen. Unter gesenkten Lidern schaute sie ihn verführerisch an und leckte sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. Tobias erschauerte.
»Hör sofort auf!«, oder du kriegst nichts zu essen!«, drohte er und verschränkte seine Finger in die ihren und drückte sie.
»So was aber auch. Du bist aber streng, mein Herr!«, seufzte sie. »Wenn das Mädchen aber brav ist und alles hübsch aufisst, was wäre dann?«
»Dann, ja dann...«, er runzelte angestrengt die Stirn. »Dann können wir über alles reden«, brachte er seinen Satz gerade noch rechtzeitig zu Ende, bevor zwei Bedienungen kamen und ihnen als Gruß aus der Küche ein Amuse-Gueule brachten - eine Geflügelleberpastete, dekoriert mit einer Fingerhut-Portion Salat.
Das Weihnachtsdinner mit seinen fünf Gängen zog sich bis in den späten Abend hin. Während des Essens heizten sie beide sich derartig gegenseitig auf, dass sie im Anschluss daran, im Hotelzimmer heißblütig übereinander herfielen. Erst das Mitternachtsläuten der Glocken erinnerte sie daran, dass auf sie noch eine Verabredung im Siglu wartete. Sie beschlossen, dass Schorsch auf sie würde verzichten müssen und widmeten sich erneut ihren sehr privaten Vergnügungen.
Die beiden folgenden Weihnachtstage trainierten sie morgens mit Schorsch. Der schien es überhaupt nicht bemerkt zu haben, dass sie ihn Heilig Abend versetzt hatten. Tobias schlechtes Gewissen war also völlig unangebracht gewesen. »Was du dir immer für Gedanken machst!«, hatte ihn Sylvia noch aufgezogen. Tobias konnte sich diese unverbindliche Art des Umganges überhaupt nicht zu Eigen machen. Das wäre in seinem Job auch schlechthin unmöglich gewesen. Als Strafverteidiger hatte er korrekt, zuverlässig und absolut fehlerfrei zu arbeiten. Er kannte Kollegen, die von diesem hohen Ideal, das er an seine Arbeit anlegte, meilenweit entfernt waren. Um die kümmerte er sich nicht. Schlampige Arbeit und Unberechenbarkeit waren ihm stets ein Gräuel.
Auch an Sylvia hatte er in den vergangenen Jahren einige Seiten wahrgenommen, die er an ihr nicht wirklich leiden konnte. Die waren ihm am Anfang ihrer Beziehung nicht gleich aufgefallen, da war er fasziniert von ihrem Anderssein. Er selbst hatte sich bis dahin als eher langweilig und wenig attraktiv für die Frauen empfunden. Umso überraschter war er, dass Sylvia ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Ihre quirlige, niemals zur Ruhe kommende Art hatte ihn fasziniert, wenn auch häufig sehr angestrengt. Manches Mal koppelte er sich deshalb einfach aus einigen gemeinsamen Aktivitäten aus, wenn sie ihm zu sehr auf die Nerven gingen. Das nahm sie ihm anscheinend auch nicht übel. Zwar gefiel ihm auch hier in Seefeld die Heiterkeit und sprühende gute Laune des täglichen Aprés-Ski, auf die Dauer jedoch war das einfach nicht seine Welt.
Zum Ende der ersten Woche, einen Tag vor Silvester, erwachte Tobias morgens mit einem unangenehmen Kopfschmerz. Es herrschte Fön-Wetterlage, und die zwei Aspirin zeigten leider keine Wirkung. So verzichtete er diesen Tag auf das Skilaufen. Sylvia wollte daraufhin mit der Zahnradbahn zur Rosshütte hochfahren und von dort dann noch ein Stück höher, wo die Schwarze Abfahrt lag. Schwarz bedeutete höchster Schwierigkeitsgrad. Tobias war es ein Rätsel, wie man von dort mit heilen Knochen herunterkommen konnte. Er selber hatte diese Piste schon öfter von der Aussichtsterrasse der Rosshütte gesehen und als viel zu steil für sich eingestuft. Er wünschte ihr bei ihrem Vorhaben viel Spaß, dann machte sie sich allein auf den Weg.
Als sie weg war, legte er sich noch eine Weile aufs Bett und schloss die Augen. Er genoss die Ruhe, die ihn umfing, als Sylvia die Hotelzimmertür hinter sich geschlossen hatte. Konnte es angehen, dass ihre temperamentvolle Art ihn erschöpfte? Er war jetzt sechsunddreißig Jahre alt und hatte Gedanken an seine private Zukunft bisher konsequent verdrängt. Eh' er sich's versah, war er vierzig. Er hatte fest vorgehabt, bis dahin verheiratet zu sein und eine Familie gegründet zu haben.
Seinem ersten Heiratsantrag vor zwei Jahren war Sylvia geschickt ausgewichen. Sie hatte ihn vertröstet mit Worten, wie: Es sei noch zu früh und es habe ja noch keine Eile. Er war sich wie ein Idiot vorgekommen. Da sie nicht zusammen lebten, waren die zwei bis drei kurzen Urlaube die einzige Zeit im Jahr, die sie rund um die Uhr
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