Milchmond (German Edition)
Johannes Blick fixierte ihn immer noch. Mit gerunzelter Stirn schaute er ihm abschätzend in die Augen. Diese Augen waren anscheinend gewöhnt, Menschen bis in die Seele zu blicken. So kam es Tobias jedenfalls vor.
»Ich weiß nicht, Herr Steinhöfel, ob meine Schwester Ihnen etwas von mir erzählt hat. Deshalb möchte ich mich kurz vorstellen. Julia und ich haben eine sehr enge und vertraute geschwisterliche Beziehung. Ich bin Pastor in einem kleinen Ort nahe der Ostsee. Julia hat mir schon vor einigen Wochen von ihrer Existenz erzählt und heute Morgen hörte ich dann den Rest der Geschichte. Ich glaube also, einigermaßen im Bilde zu sein, so weit ich meiner Schwester nach ihrem gestrigen Nervenzusammenbruch folgen konnte. Es geht ihr nicht gut! Eben war der Arzt da und hat ihr Ruhe verordnet - deshalb mein Verhalten! Sie können sie jetzt nicht sehen und es wäre auch nicht gut, wenn Sie unter diesen Umständen auf unsere Eltern träfen. Ich maße mir aber berufsbedingt keinerlei Urteil an, Herr Steinhöfel - damit wir uns richtig verstehen! Ich bin nicht gegen Sie, kann es nicht sein, nachdem mir Julia von ihrem Glück mit Ihnen berichtet hat. So, das also in Kürze zu mir und meiner Rolle. Ich biete ihnen an, ich müsste allerdings noch kurz meinen Mantel holen, dass wir einen kleinen Spaziergang machen. Sie können Julia jetzt auf keinen Fall sehen! Wenn Sie mögen, erzählen sie mir Ihre Geschichte und wir schauen, ob ich etwas für sie beide tun kann, als Vermittler sozusagen. Einverstanden?«
Sie hatte einen Nervenzusammenbruch? Tobias erinnerte sich an ihre Reaktionen vom gestrigen Abend. Ja, sie hatte sich in einem Ausnahmezustand befunden; so hatte er sie noch nie erlebt. »Um Gottes Willen, Nervenzusammenbruch sagen Sie? Nein, eigentlich wundert es mich nicht! Es war einfach alles zu viel, was ihr zugemutet wurde, und es tut mir aufrichtig leid, dass ich ihr die ganze abscheuliche Wahrheit nicht vorenthalten konnte. Herr Steffens, ich danke Ihnen für Ihr Angebot und nehme es hiermit gerne an. Holen Sie Ihren Mantel?«
Ein verschmitztes Lächeln huschte über Johannes Gesicht, er wendete sich hastig um. »Bin gleich zurück, warten Sie hier!«
Dieser Johannes machte einen besonnenen Eindruck, und wenn Julia ihm ihr Vertrauen schenkte, so würde er es auch tun können. Vielleicht war es ganz gut, diese vertrackte Situation mit einem anderen Menschen besprechen zu können. Tobias schaute ein wenig fröstelnd zum Himmel. Die Sonne brach immer mal wieder für wenige Augenblicke durch die rasch dahin ziehenden Wolken und sandte ihre frühherbstlichen Schatten durch die enge Straße. Möwen tanzten mit ausgebreiteten Schwingen auf den böigen Luftstößen. Er schlug den Kragen hoch und wartete. Dabei fiel sein Blick auf die schönen, alten Kapitänshäuser von Blankenese. Hier also befand er sich am Ort von Julias Kindheit. Hier wuchs sie in Geborgenheit auf. Es war ihm klar, dass sie nur hier hatte Zuflucht suchen können. Ihr Vater war eine bekannte Größe, und Tobias achtete ihn sehr. Sie kannten sich flüchtig, das war in Hamburger Juristenkreisen unumgänglich.
Tobias fürchtete aber gleichzeitig auch das Zusammentreffen mit Richter Steffens, wenn er ihm in seiner Rolle, als Julias Große Liebe, gegenübertreten würde. So gesehen, war es geradezu ein Glücksfall, dass sich Julias Bruder anbot, zuhören zu wollen. Nach seinem ersten flüchtigen Eindruck, schien er kein übler Bursche zu sein, jedenfalls machte er einen sehr sympathischen Eindruck.
»Da bin ich wieder! Es hat Sie niemand gesehen, und ich habe unseren Eltern erzählt, dass ich nachdenken muss und einen Spaziergang mache. So, kommen Sie! Es ist genau das richtige Wetter für einen Spaziergang an der Elbe. Dabei kann man gut reden.« Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, nahmen dann die vielen kleinen Treppenstufen, die hinab zur Elbe führten. Dabei machte Johannes den Anfang.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist?«
»Ja, Herr Steffens, das werde ich«
»Sagen Sie Johannes zu mir, wenn es Ihnen recht ist.«
Überrascht blieb Tobias stehen. »Ja, gerne, also ich bin Tobias!«
»Ja, so lässt sich leichter über Persönliches reden.«
Sie reichten sich die Hände. Johannes hielt dabei Tobias Hand einen Augenblick länger als nötig, mit seinen beiden, warmen Händen, fest umschlossen. Diese kurze Sekunde schuf einen Brückenschlag zwischen ihnen. Offenheit,
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