Milchmond (German Edition)
Schatz, ich mache dir ein kräftiges Frühstück! Gegen deinen Hunger lässt sich etwas ausrichten!« Mama und Papa verschwanden aus dem Zimmer. Johannes setzte sich zu ihr ans Bett. »Ich habe noch nichts zu unseren Eltern gesagt. Es geht um Jörg und Tobias, stimmt's?«
Hätte er doch nur diese Namen nicht genannt, nicht jetzt schon! Plötzlich war alles wieder da, und sie erinnerte sich schlagartig und überdeutlich an die Geschehnisse des vergangenen Tages. Die hereinstürzenden Erinnerungen waren so schrecklich, so unaussprechlich, so schmerzhaft, dass die Tränen augenblicklich wieder da waren - wie gute alte Freunde.
Johannes hielt ihre Hand und ließ sie weinen. Minuten strichen dahin, unterbrochen von schulterzuckendem Schluchzern und Papiertaschentuchgeraschel. Als ihre Mutter mit dem vollen Frühstückstablett zurückkehrte und die Situation erfasste, stellte sie das Tablett auf das Tischchen neben dem Bett, wandte sich geräuschlos wieder zum Gehen und ließ sie taktvoll mit ihrem Bruder allein, die Zimmertür hinter sich leise schließend.
Johannes goss ihr eine Tasse Tee ein, verrührte den Zucker und hielt ihr die Tasse an die Lippen. Zögerlich nippend nahm sie die ersten kleinen Schlucke, richtete sich in ihrem Bett auf und zog die Bettdecke schützend hinauf zu den Schultern.
»Willst du mir die ganze Geschichte erzählen, Schwesterlein? Ich glaube, das täte dir jetzt gut. Du weißt, dass alles unter uns bleibt, nicht wahr?« Sie nickte, denn sie wusste, dass sie sich auf ihren Bruder hundertprozentig verlassen konnte.
»Ach Johannes, alles liegt in Scherben und meine Welt ist voller Betrug und voller Abgründe. Ich kann das alles gar nicht so wiedergeben. Das glaubt einfach niemand...«
»Doch, ich werde dir glauben! Nimm dir Zeit und fange am besten dort an, wo wir bei unserem letzten Treffen aufgehört haben! Du erzähltest mir von Tobias, dass er die Große Liebe deines Lebens sei. Wie ging es weiter? Was ist geschehen?«
Sie nickte, sich erinnernd, und begann - erst wie zu sich selbst, dann immer fließender - die ganze Geschichte ihrer abhanden gekommenen Liebe ihrem Bruder zu erzählen...
Während der folgenden langen Schilderung sorgte Johannes zwischendurch dafür, dass sie aß und trank. Willig nahm sie die dargebotenen Bissen aus seiner Hand und ließ sich füttern. Es erleichterte ihr schweres Gemüt, alles Aufgestaute, bisher Unausgesprochene, aus ihrem Herzen entlassen zu können.
Gegen Mittag sah Doktor Prenzler nach ihr. Er schien mit dem Gesundheitszustand seiner Patientin zufrieden zu sein und verordnete ihr für die nächsten Tage Ruhe und lange Spaziergänge. Außerdem riet er dazu, dass sie einige Zeit im Hause ihrer Eltern bleiben solle, um sich wieder zu stabilisieren. Nach kurzem Gespräch mit ihren Eltern verabschiedete er sich und wurde von Johannes zur Tür begleitet.
Kapitel 29
An der Gartenpforte von Julias Elternhaus kam ihm ein Herr mit dunklem Mantel und brauner Arzttasche entgegen. Tobias nickte ihm im Vorbeigehen irritiert zu. Daraufhin traf ihn ein musternder Blick durch randlose Gläser, und er hörte ein gemessenes:
Guten Tag, der Herr!
Die Haustür wurde gerade von einem schlanken End-Dreißiger geschlossen. Dieser hielt inne, als er den Neuankömmling an der Pforte bemerkte und trat ihm mit ausgebreiteten Armen auf dem Gartenweg entgegen, zwang ihn durch seinen energischen Schritt in Richtung Pforte zur Umkehr. »Entschuldigen Sie, aber ich glaube, ich weiß wer Sie sind. Wir müssen uns unterhalten, aber bitte außerhalb des häuslichen Blickfeldes. Sie werden verstehen. Kommen Sie!«
Was hatte das zu bedeuten? Wer war der energische Hagere? Wahrscheinlich der Sohn des Hauses, also Julias Bruder. Tobias sah sich von ihm auf die Straße zurückgedrängt, bis sie hinter der Ligusterhecke stehen blieben. Sein Gegenüber sah ihm sezierend in die Augen. »Bitte entschuldigen Sie; hier liegen besondere Umstände vor, die mich dazu veranlassen, mich so zu verhalten. Ich glaube zu wissen, wer Sie sind. Ich bin Johannes Steffens, Sohn des Hauses, der Bruder von Julia Rosshaupt. Nennen Sie mir bitte Ihren Namen?«
»Ja natürlich, selbstverständlich! Ich bin Tobias Steinhöfel. Ich nehme nicht an, dass Sie mit meinem Namen etwas anfangen können?«
»Oh doch, Herr Steinhöfel, ich kann und es war richtig, Sie an der Tür abzufangen. Wir müssen und sollten miteinander reden.«
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