Milchmond (German Edition)
nicht in den letzten vierundzwanzig Stunden, zweimal ausführlich mit Tobias telefoniert, und hatte er dabei nicht völlig unbefangen gewirkt? War ihr irgendetwas an ihm aufgefallen? Nein, er war ganz natürlich und liebevoll wie immer. Allerdings, beim zweiten Anruf, kam ihr etwas merkwürdig vor, weil er sich so vehement nach bestimmten Details ihres Gesprächs mit der Ärztin erkundigte. Sie schaute wieder auf die Fotos im Display ihres Handys.
Wie konnte sie sich so in Tobias täuschen? Ihr juristischer Verstand verurteilte ihn sofort zur Höchststrafe - nach Indizienlage! Wenn das, mit der Verlobung, stimmte, und seltsamerweise hatte sie keinen Zweifel daran, dann gab es dafür einfach keine Rechtfertigung und keine hohle Ausrede. Es wäre schlichtweg unfassbar!
In ihrem Herzen gab es zwar eine winzigkleine Regung, kaum wahrnehmbar, die ihr sagte, alles sei ein großer Irrtum und würde sich aufklären: Tobias sei ein aufrichtiger und guter Mensch, den zu finden und zu lieben sie sich immer gewünscht hatte. Das Schicksal konnte einfach nicht so grausam zu ihr sein! Diese schwache Stimme ihres Herzens verhallte jedoch ungehört, hatte nicht die erforderliche Stärke, um in Julias höhere Bewusstseinsschichten vorzudringen.
Die verhängnisvolle Nachricht erreichte Julia während ihres Strandspaziergangs. Weinend kauerte sie sich daraufhin in eine vom Strandhafer freigelassene Nische des Strandes. Sie wusste später nicht, wie lange ihr Erstarrungszustand anhielt.
In ihrer Not betete sie sogar - ein kurzes, kindliches Gebet, mit krampfhaft gefalteten Händen gesprochen:
Lieber Gott, das kannst du doch nicht zulassen! Mach, dass das, mit der Verlobung, nicht stimmt. Lass alles wieder gut und Jörg gesund werden. Ich wünsch mir doch so, dass Tobias und ich zusammenkommen und eine glückliche Familie werden. Bitte, lieber Gott, gib mir ein Zeichen, dass alles gut wird! Amen
Danach schaute sie mit leeren Augen in die Wolken und über das Meer, horchte in den Wind und beobachtete die Möwen. Als der erbetene göttliche Fingerzeig schließlich ausblieb, begrub sie ihre Zukunftspläne und machte dem Irrsinn mit einer einzigen SMS ein jähes Ende.
Sollte Tobias Steinhöfel zur Hölle fahren!
Ihre Kräfte waren am Ende - ihre Nerven waidwund. Keine Sekunde wollte sie länger auf dieser Insel bleiben. Sie würde jetzt, auf der Stelle, ihre Sachen packen und zu ihren Eltern nach Blankenese fahren. Blankenese, der Ort ihrer beschützten Kinder- und Jugendzeit. Dort würde sie Zuflucht finden.
Tränenblind bestieg sie den Wagen. Beinahe hätte sie die Fahrradfahrerin auf dem Sandweg vor sich übersehen. Es ging gerade noch einmal gut, sie konnte in letzter Sekunde ausweichen. Im Rückspiegel sah sie die Frau schimpfend gestikulieren.
Jörg war zum Glück nicht im Haus. Sollte er sehen, wo er blieb! Sie hatte alles gründlich satt, warf die wichtigsten Sachen in ihren Koffer, klappte den Deckel zu und schrieb eine zittrige Notiz, die sie an den Eisschrank heftete:
Ich bin heimgefahren.
Suche mich nicht, ich will nicht mehr bei dir sein! Julia
Dann raste sie los. Nur nicht mehr auf Jörg treffen müssen! Sie schaffte es auf den letzten Drücker, die Sechzehn-Uhr-Fähre zu erreichen. Die Schranke zur Schiffsrampe wurde gerade geschlossen. Mit der Lichthupe machte sie auf sich aufmerksam und der Fährarbeiter fuhr die sich senkende Schranke wieder hoch. Sie zeigte ihm ihre Rückfahrtpapiere. Er grinste sie an: »Glück gehabt, meine Dame, gerade noch geschafft. Doch nun gute Heimreise!«
Sie fuhr auf den ihr zugewiesenen Stellplatz. Erschöpft ließ sie die Rückenlehne in halbe Liegestellung gleiten und schloss die Augen. Sie vernahm noch das Jaulen der hochfahrenden Rampe, den leichten Ruck und das Vibrieren, als die Leinen los geworfen wurden und die Fähre sich in Bewegung setzte. Sie würde nie wieder zu dieser Insel zurückkehren!. Dann musste sie eingenickt sein.
Vom Türenknallen und dem Starten der vielen Automotoren wurde sie wieder wach. Benommen erkannte sie vor sich die roten Rückleuchten, der voran rollenden Autoschlange und brauchte Sekunden, um sich wieder zu orientieren. Dann brach mit Macht die Erinnerung der letzten Stunden über sie herein. Mit ihr kehrte auch die Verzweiflung in ihr Herz zurück.
Schniefend startete auch sie und rollte langsam vom Schiff. Nur weg von hier! Zügig folgte sie dem schmalen Asphaltband der Küstenstraße,
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