Milchmond (German Edition)
Wärme und Toleranz drückte sich in diesem Händedruck aus. Ja, dieser Mann, mit seinem Charisma, konnte nur Pastor sein! Tobias hatte lange nicht mehr eine so intensive, nonverbale Kommunikation mit einem Menschen erlebt, wie in diesem einen Augenblick mit Johannes. Schon der Name hatte biblische Wucht. Es war ihm, als würde dieser magische Moment die Wälle seiner aufgestauten Gefühle und unausgesprochenen Worte einreißen und so begann er, Johannes die Geschichte ihrer Liebe und ihrer Wirrungen zu erzählen...
»Und du hast Beweise, dass Jörg die ganze Geschichte von seiner tödlichen Tumorerkrankung nur inszeniert hat?«
»Ja, und er hat es gestern Abend mir gegenüber sogar zugegeben. Er sagte, er hätte aus Liebe gehandelt und geglaubt, die Geschichte zwischen Julia und mir sei nur ein Hormonschub von Julia, der vergehen würde. Er kenne das zur Genüge von seinen Oberstufen-Schülerinnen.«
»Das hat er gesagt? Hm., meine Schwester glaubt offenbar, dass du dir das alles ausgedacht hast.«
»Ja, leider! Sie hat mir nicht geglaubt, aber es gibt Fakten, die das beweisen: Ich habe die Verbindungs-Listen, ich kann sie dir später zeigen.«
»Geschenkt! Das lässt sich ja alles leicht aufklären, auch das, mit der Ärztin aus der Uniklinik. Ich glaube dir. Es ist ungeheuerlich und unverantwortlich von Jörg! Was ist nur in ihn gefahren? So kenne ich ihn überhaupt nicht. Wir haben nämlich ein gutes Verhältnis zu einander.«
»Er wurde von meiner Exfreundin Sylvia benutzt. Ich habe sie all die Jahre nicht durchschaut und nicht erkannt, zu welchen Intrigen und Gemeinheiten sie fähig sein kann. Sie weiß, wie man uns Männer manipulieren kann!«
»Julia sagte mir, sie hätte eine Nachricht erhalten, dass du dich mit Sylvia verlobt hast. Ist das wirklich wahr?«
»Ja, leider. Nun kommen wir zum dunkelsten Kapitel meines Versagens: Wenn ich jetzt behaupten würde, ich sei Opfer und wurde auf dem falschen Fuß erwischt, würde das niemand ernsthaft glauben können. Ich erzähle dir, wie Sylvia das eingefädelt hat. Also, ich war mit ihr sechs Jahre fest befreundet. Wir wohnten aber nicht zusammen, sondern jeder hatte seine eigene Wohnung. Wir haben uns regelmäßig an festen Tagen in der Woche getroffen und sind gemeinsam viel verreist. Sylvia ist ganz das Gegenteil von mir. Sie ist so temperamentvoll, so unternehmungslustig - braucht ständig Abwechslung und Unterhaltung. Ich komme mir dagegen wie ein Langweiler vor. Ich liebe gutes Essen, koche gern, bin häuslich und liebe die Natur. Ja, und ich hatte ihr vor zwei Jahren schon einmal einen Heiratsantrag gemacht, dem sie geschickt auswich. Sie meinte, das hätte doch noch Zeit, wir wären ja noch jung... Dann verbrachte ich Anfang des Jahres noch einmal mit ihr einen gemeinsamen Winterurlaub in Österreich. Weißt du, Johannes, ich bin jetzt siebenunddreißig Jahre alt, und ich hatte mir fest vorgenommen, einmal eine eigene Familie zu haben - mit Haus und Garten und Kindern und allem, was dazu gehört. Ich habe ihr gesagt, dass es langsam Zeit für mich wird; alte Väter sind nicht gut für Kinder. Ich hatte Sylvia wiederholt von meinen Vorstellungen erzählt und sie gefragt, ob sie meine Vorstellungen teile. Ich bat sie nach dem letzten Urlaub noch einmal, mich zu heiraten, doch sie lehnte ab, sagte nur: Kinder und Haus mit Garten? Nein danke, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen! Das war's! Wir haben uns dann monatelang, bis Ende August, nicht mehr gesehen - Schluss gemacht wegen unüberbrückbarer Gegensätze! Dann lernte ich deine Schwester kennen. Sie war so anders, so liebevoll und natürlich und sie wünschte sich so sehnlich Kinder. Ich fühlte mich mit ihr wie im Himmel. Nie hätte ich geglaubt, dass ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl und eine so völlige Übereinstimmung zwischen zwei Menschen möglich sein können. Das ist mir in dieser Form noch nie passiert. Julia musste es ähnlich ergangen sein, und so kamen wir uns näher. Die Geschichte zwischen uns war so heftig, dass Julia sich entschloss, Jörg reinen Wein einzuschenken und sich von ihm zu trennen. Das tat sie auch und zog anschließend zu mir, in meine Wohnung. Euch, also ihrer Familie gegenüber, hatte sie das zunächst verschwiegen, sie wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten. Alles schien auch soweit in Ordnung, bis dann der Anruf dieser angeblichen Ärztin kam, dass Julia ihren sterbenskranken Mann aus der Uniklinik abholen
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