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Milchmond (German Edition)

Milchmond (German Edition)

Titel: Milchmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herfried Loose
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solide und wirkte so vernünftig, ganz anders als die Leute, die ich vom Theater her kannte. Mein Leben erschien mir dagegen flippig und verrückt, voller Unsicherheiten. Ich kannte kein festes Einkommen, immer nur kurzfristige Engagements. Ich wollte mein Leben mit deinem Vater auf einem soliden Fundament aufbauen. Ich wollte eine Familie und ein gemütliches Heim schaffen. Erst viel später bemerkte ich, dass das Theater und das ganze drum herum mein wirkliches Leben war - meine Luft, die ich zum Atmen brauchte.
Da waren wir aber schon verheiratet, und ich ging mit Marco schwanger. Ach Kind, es ist wahrscheinlich immer dasselbe, dass wir uns immer nach dem sehnen, was wir gerade nicht haben. Ich hatte ja noch das Glück, das ich wenige Jahre nach deiner Geburt noch einmal wieder ein Engagement bekam. Deinem Vater gefiel das natürlich nicht. Wir brauchten aber das Geld, und etwas anderes als Ballett kam für mich nicht in Frage.
   Ich konnte mit meiner Arbeit jedoch nicht wieder da anknüpfen, wo ich aufgehört hatte. Das Tanzen befriedigte mich nicht in dem Maße, wie ich es erwartet hatte. Immer lief ich mit einem schlechten Gewissen und quälenden Zweifeln herum: War ich eine schlechte Mutter? Konnte ich Ballett und Muttersein wirklich verbinden? Diese Fragen gingen mir laufend durch den Kopf. Hätte ich damals Helga nicht gehabt, wäre das alles ohnehin nicht gegangen. Helga war die einzige, die mich wirklich kannte und verstand. Es tat so weh, als sie aus unserem Leben verschwand.«
   Die Sätze hatten ihre Mutter alle Kraft gekostet. Sie atmete tief und seufzte schwer, dann sank ihr Körper wieder in sich zusammen, und ihr Blick verlor sich in unendliche Fernen, so, als sei sie gar nicht mehr da. Sylvia hatte sich leise von ihr verabschiedet und versprochen, nächste Woche wiederzukommen. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter die Worte verstanden hatte.
   Dieses erste Gespräch nach dem Amerikaaufenthalt war auch ihr letztes gewesen. Drei Tage später beging ihre Mutter Selbstmord. Es war ihr gelungen, ihr Bettlaken in Streifen zu reißen und sich damit an einem der Gitterstäbe ihres Fensters zu erhängen. Die Pfleger fanden sie morgens bei ihrem Weckrundgang.

Kapitel 4
     
     
    Die Redaktionssitzung schien heute kein Ende nehmen zu wollen. Sylvia hatte sich bereits eine Menge Punkte auf ihrem Block aufgeschrieben. Chris hatte jedem von ihnen aus dem Redaktionsteam spezielle Aufgaben für die Woche zugewiesen.
   Veronika saß neben Chris und schrieb das Protokoll. Am Tisch waren außerdem noch Sven Steiner und Rita Wieben. Die beiden Stühle von Claudine Färber und Manni Bergmann waren leer. Sie waren krank. Im Augenblick ging es um die Besetzung des Ü-Wagens, der morgen das Spiel des FC St. Pauli gegen Wuppertal übertragen sollte.
   Fußball war nicht ihr Ressort und so schweiften ihre Gedanken noch einmal zurück zum Seefelder Winterurlaub, der nun auch schon seit zwei Wochen Vergangenheit war. Sie hatte es sehr genossen, und mit dem Wetter und den Ski-Bedingungen hatten sie Glück gehabt. Die Truppe um Schorsch war schon Klasse gewesen. Auch Schorsch hatte ihr gefallen. Sie mochte diese urwüchsigen Typen - sie strahlten soviel Kraft und Optimismus aus. Schorsch war, wo immer sie aufgetaucht waren, der umschwärmte Mittelpunkt gewesen. Jede und jeder im Ort schienen ihn zu kennen und zu mögen.
   Auch an ihr war sein Charme nicht wirkungslos abgeprallt. Sie hatte ein wenig mit ihm geflirtet, mehr nicht. Zum Urlaub gehörte ein Urlaubsflirt einfach dazu, fand sie. Gottseidank war Tobias in dieser Hinsicht pflegeleicht. Weder war er eifersüchtig, noch in irgendeiner Weise ihr gegenüber misstrauisch. So gesehen, war es in der Vergangenheit für sie relativ leicht gewesen, ihn ab und an ein wenig an der Nase herumzuführen - aber nur ein wenig und in vertretbarem Maß.
   So hatte sie zum Beispiel keinerlei Skrupel empfunden, als sie ihn beim Dürrenmatt-Schauspiel versetzte. Die Sache mit Ritas Frauengeschichte war frei erfunden und kam ihr erst in den Sinn, als sie bei Rita auch Sven und Claudine vorfand. Die waren in Partylaune und weil es gerade so schön war, hatte sie die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und zu dieser kleinen Notlüge gegriffen.

   »...oder, was meinst du, Sylvia?«, hörte sie gerade noch den Schluss der Frage, die Chris anscheinend gerade an sie gerichtet hatte. Sie tauchte aus ihren Tagträumen auf und sah in die Gesichter ihrer Kollegen, die sie

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