Milchmond (German Edition)
trauriger.
»Mami, warum bist du immer so traurig?«, hatte sie gefragt.
»Ach Kind, ich habe immer so gerne getanzt. Nun geht es nicht mehr, und das fehlt mir, weißt du?«
»Ich will auch tanzen, das hat so schön ausgesehen«, hatte sie gebettelt und eines Tages war Mami tatsächlich mit ihr in eine Ballettschule gegangen und hatte sie angemeldet. Oft hatte sie ihr beim Training zugesehen. Papi war davon gar nicht angetan. »Mädchen in deinem Alter sollten lieber etwas Ordentliches lernen. Geh in den Sportverein, da kannst du viele Sportarten kennen lernen und das kostet auch nicht soviel!« Mami hatte sie aber trotzdem tanzen lassen, und darüber war Sylvia richtig glücklich gewesen.
Später, das war in dem Jahr, als ihre beste Freundin Sophie fortzog, hatte sie mit Mami zusammen noch manches Mal die Ballettproben im Theater angeschaut und ihr wurden viele tänzerische Feinheiten erklärt. Sylvia mochte die Leute vom Theater. Da herrschte immer eine sprühende, begeisternde Atmosphäre. Die Menschen dort waren so anders, als die, die ihr im normalen Alltag begegneten.
Ihre Brüder Marco und Oliver hatten nur Fußball im Kopf. Beide spielten sie im Verein des Kieler Stadtteils, in dem sie wohnten. Papi fuhr mit ihnen von Turnier zu Turnier. Zu Ballettaufführungen ihrer Schule erschien er nie. »Papi mag das Theater nicht, Kleines, mach dir nichts daraus. Davon verstehen nur wir Künstler etwas«, pflegte Mami gerne augenzwinkernd zu sagen, und das machte Sylvia ganz stolz. Jawohl, sie würde auch eine so große Künstlerin werden wie Mami, das nahm sie sich fest vor.
Sie mochte vierzehn Jahre alt gewesen sein, als sie in einer Aufführung der Ballettschule einen Solopart im Nussknacker tanzen durfte. Sie war sehr aufgeregt gewesen, aber während des Tanzes vor all den Zuschauern, da hatte sie es genossen, der Star im Rampenlicht zu sein. Danach hatte sie sich immer darum gerissen, wieder einen Solopart zu ergattern und ihre Ballettlehrerin freute sich an ihrem aufblühenden Selbstbewusstsein. Mami war hingerissen und stolz auf ihre tanzende Prinzessin.
Als Sophie mit ihrer Mutter fortzog, hatte Sylvia tagelang geweint. Sie waren weggezogen, weil Sophies Papa eine andere Frau lieber hatte als ihre Mutter. Tante Helga zog daraufhin zu ihren Eltern ins Rheinland. Sophie und Tante Helga fehlten ihr. Sie schrieben sich noch eine Weile, aber irgendwann hörte das auf.
Mami wurde noch trauriger seitdem. Später, als Sylvia in das Alter kam, in dem die Jungen in der Klasse interessanter wurden als die Ballettstunden, meldete sie sich von einem Tag auf den anderen bei der Ballettlehrerin ab. Ihre Mutter schimpfte und machte ihr Vorwürfe. Aber Sylvia blieb stur und nahm den Unterricht nicht wieder auf.
Mit ihren Brüdern hatte sie nie viel im Sinn gehabt. Die Geschwister schienen sich die Eltern und auch das übrige Leben fein säuberlich aufgeteilt zu haben. Sylvia hatte ihre Mutter, die beiden Jungs den Vater. Sylvias Zimmer lag auf der einen Seite des Korridors der Etagenwohnung, die Jungs teilten sich das größere andere Zimmer der Vierzimmerwohnung.
Gemeinsame Urlaube gab es nicht, dazu war nie genug Geld da. Wenn Sylvia Geld benötigte, ging sie zu ihrer Mutter. Ihr Vater war ihr immer fern geblieben, ja, er schien von ihr und ihrer Mutter geradezu wie durch eine unsichtbare Mauer getrennt. Mehr als einmal hörte sie ihre Mutter seufzen: »Binde du dich nur nie so früh, sondern genieße dein Leben!« Daraus zog Sylvia die Schlussfolgerung, dass verheiratet zu sein, unglücklich macht. Schon früh nahm sie auf Drängen ihrer Mutter die Pille. Vater durfte davon nichts wissen, und so war es ein Geheimnis, welches sie nur mit ihrer Mutter gemeinsam teilte.
Ihr erster Freund hieß Fred, eigentlich Frederic, und war ganz anders als die übrigen aus ihrer Klasse. Fred spielte E-Gitarre in der Schulband. Sie war das Aushängeschild des Gymnasiums, und ihre Mitglieder wurden von den anderen Schülern sehr geachtet und respektiert. Fred spielte den E-Bass – er wirkte beim Spielen immer sehr souverän. Ohne ihn ging nichts, denn es gab auch keinen Ersatzmann.
Sylvia hatte sich am Schlagzeug versucht und auch erste Erfolge gehabt, war dann aber an Martina, dieser dusseligen Kuh gescheitert. Martina spielte ebenfalls Schlagzeug und setzte sich durch eifriges, beharrliches Üben als erste Schlagzeugerin der Band durch. Als Sylvia zur Ersatzschlagzeugerin
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