Milchmond (German Edition)
dass sich jemand an ihren Sachen zu schaffen gemacht hatte. Der Reißverschluss der Tasche war geöffnet und ein paar Sachen lagen auf dem Sitz des Korbes verteilt. Die Autoschlüssel und Papiere steckten aber unversehrt im linken Außenfach der Tasche. Die hatte der Dieb nicht gefunden. Ihre Uhr, ihre dünne goldene Halskette mit dem kleinen Brilli dran und das Portemonnaie samt Bargeld fehlten.
Rasch ging sie in Gedanken den Barbestand durch. Es mussten ungefähr einhundertzwanzig Mark gewesen sein. Zu ärgerlich.
»Melden Sie das der Polizei, die Wache ist gleich in der Nähe, dort entlang…«, er wies die Richtung, »zirka achthundert Meter von hier.«
»Ja, ich helfe der Dame weiter. Vielen Dank für Ihre Hilfe!« Mit diesen Worten entließ der Schnauzbärtige den professionellen Retter. »Ich heiße übrigens Jörg Rosshaupt«, stellte er sich vor.
»Julia Steffens«, kam es automatisch von ihren Lippen. Sie fühlte sich elend. Dass ausgerechnet ihr das passieren musste.
»Beruhigen Sie sich erst einmal und trocknen Sie sich ab! Wichtig ist, dass die Papiere und Autoschlüssel noch da sind. Was meinen Sie, was für einen Stress es gemacht hätte, wenn Ihre Papiere auch gestohlen worden wären? Was ist mit Ihrem Handy? War das auch in der Tasche?«
»Nein, das hab ich im Auto gelassen, der Akku war ohnehin leer.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Rossmann. Ich komme jetzt schon allein zurecht!«, versuchte sie ihren Retter loszuwerden. »Es war nett, dass Sie mir so spontan zu Hilfe gekommen sind. Meine Rufe waren ja auch sehr missverständlich!«
»Nein, ich bleibe noch einen Moment, bis Sie sich wieder beruhigt haben und die Lage überblicken können. Ich könnte als Zeuge bei der Polizei aussagen. Ich weiß, wo das Polizeirevier ist und könnte sie hinbringen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.« Während sie sich abtrocknete, taxierte sie ihn verstohlen. Er mochte so um die dreißig sein, sehr schlank und ziemlich groß. Seine schmale Brust war unbehaart. Auch schien er lange keinen Frisör mehr gesehen zu haben; die dunkle Haarmähne reichte ihm bis über die Ohren. Am Auffälligsten war jedoch sein Schnauzbart mit den nach oben gezwirbelten Enden. Das erinnerte sie an die alten Fotos aus der Kaiserzeit. Herrlich altmodisch, aber irgendwie extravagant! Wer einen solchen Bart trug, musste mit Selbstbewusstsein reichlich gesegnet sein.
Unwillkürlich fiel ihr Blick auf seinen Ring, sie wusste auch nicht warum. Im ersten Moment hatte sie gedacht, es sei ein Ehering. Dann stellte sie aber fest, dass er wohl nur verrutscht war. Jetzt sah sie, dass es sich um einen Ring handelte, dessen Oberfläche Ziselierungen aufwies, die sie nicht genau erkennen konnte. Seine langgliedrigen Finger waren schlank und zart. Die Hände sahen nicht so aus, als ob sie es je mit harter, körperlicher Arbeit zu tun gehabt hatten.
»Ich gehe nur mal kurz zum Strandkorbvermieter, mal fragen, ob der etwas gesehen hat. Ich bin gleich wieder zurück!« Sie sah ihm nach. Knackiger Hintern, dachte sie, während sie die Gelegenheit nutzte, um sich etwas Trockenes anzuziehen. Es stellte sich heraus, dass der Vermieter tatsächlich jemanden gesehen hatte, der den Strandbereich eilig verlassen hatte.
Er beschrieb ihn als einen südeuropäisch aussehenden, vielleicht zwanzigjährigen Mann, mit Baseballcap und dünnem Oberlippenbärtchen. Er habe ein weißes T-Shirt und eine schwarzglänzende, kurze Sporthose angehabt.
Julia ging nicht zur Polizeistation, weil es ihr sinnlos erschien. Eine Anzeige würde ihr die gestohlenen Sachen nicht zurückbringen Das Geld war weg; um den Schmuck war es zwar ärgerlich, sie hatte aber keine Lust, bei dem schönen Wetter zwei Stunden auf dem Revier zu vertrödeln.
Jörg Rosshaupt wurde sie nicht wieder los, im wahrsten Sinne des Wortes. Er entpuppte sich als charmanter Unterhalter. Binnen einer Stunde hatte er seine in der Nähe befindlichen Sachen geholt und seine Strandmatte neben ihrem Strandkorb ausgerollt.
Erst fand sie die Situation unbehaglich, sie wollte lieber allein sein. Dann taute sie aber zusehends auf, da Jörg es verstand, sie aus ihrer wegen des Diebstahls schlechten Stimmung herauszuholen. Er schaffte es, sie ein ums andere Mal zum Lachen zu bringen. Sie erfuhr, dass er auch aus Hamburg kam und als Studienrat am Harvestehuder Gymnasium arbeitete.
Als das Gespräch auf seine Lehrfächer
Weitere Kostenlose Bücher