Milchmond (German Edition)
als Warteschleife benutzt, da sein Notenschnitt nicht dem numerus clausus für Medizin genügt hatte. Als er die entsprechende Wartezeit erfüllt hatte, wechselte er in das Medizinfach. Er meinte, dass ihm die Juristerei vielleicht später auch noch nützlich sein könne, weil es Berufsfelder gab, die sich mit Medizin und Jura überschnitten. Vielleicht würde er in die Gerichtsmedizin gehen.
Ihre Liebe zu Michael machte es Julia leicht, das Elternhaus in Blankenese gegen die WG einzutauschen. Er war sehr zärtlich und einfühlsam, und sie fühlte sich bei ihm als Frau akzeptiert und verstanden.
Niemals war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen. Was hatten sie für nächtelange Diskussionen geführt über die Ungerechtigkeiten des sozialen Systems. Michael war politisch links orientiert. Julia hatte erst durch die endlosen Diskussionen mit Michael, Kirsten und Laura angefangen, sich ebenfalls für Politik zu interessieren. Bevor sie das Studium aufgenommen hatte, war sie, geprägt durch ihren Vater, fasziniert von den scharfsinnigen, rechtlichen Auseinandersetzungen in den Gerichtsprozessen gewesen. Dieser stete intellektuelle Zweikampf der streitenden Parteien hatte sie mit großer Bewunderung erfüllt. Nun bekam sie durch die WG erstmals ein Gefühl dafür, wie privilegiert sie ihre Kindheit und Schulzeit in Blankenese verbracht hatte.
Das war ihr bis dahin nie bewusst in den Sinn gekommen. In ihr wuchs ein Gefühl der Dankbarkeit dafür, dass sie so wohlbehütet und abgeschirmt aufwachsen durfte. Das Jurastudium faszinierte sie umso mehr, als sie begann, die Juristerei als Waffe zu sehen. Sie wollte Rechtsanwältin werden, und ihre Rechtskenntnisse sollten das Schwert sein, mit dem sie für Gerechtigkeit kämpfen wollte. Das Studium erwies sich als schwierig, doch Julias Beharrlichkeit und Selbstdisziplin halfen, die Schwierigkeiten zu meisten.
Ihre Eltern hatten Julias Veränderung Schritt für Schritt bei den Wochenend- und Ferienbesuchen zu spüren bekommen. Ihr Vater genoss die scharfsinnigen Diskussionen mit seiner Tochter. Ihre Mutter zog es dann vor, die beiden Kontrahenten allein zu lassen. Politik war nicht ihr Thema. Während ihrer Studienzeit gab Julia das Klavierspielen auf. Sie fand, es passte jetzt nicht mehr zu ihr. Sie, die sie zum scharfen Schwert im Kampf für soziale Gerechtigkeit werden wollte, konnte unmöglich das Pianospiel der Tochter aus gutem Hause pflegen. Das schien ihr nicht mehr adäquat zu sein.
Sie verwandelte sich auch äußerlich. Hatte sie früher Wert auf schöne, feminine Kleidung gelegt, so kam ihr das jetzt bieder und angepasst vor. Sie wollte kein Mädchen mehr sein, sondern selbstbewusste Kämpferin. So hatte sie seit ihrem ersten Semester weder Kleid noch Rock getragen. Sie zog jetzt Hosen und Jacken vor. Musste sie gediegener gekleidet sein, so hatte sie sich dafür mehrere Hosenanzüge zugelegt.
Das Studium absolvierte sie in neun Semestern und machte in Freiburg schließlich ihr erstes Staatsexamen mit Auszeichnung. Für die anschließende zweijährige Referendarszeit bewarb sie sich in Hamburg beim Oberlandesgericht und wurde angenommen.
Nach ihrer Rückkehr ins heimatliche Hamburg wohnte sie wieder im Hause ihrer Eltern. Sie erinnerte sich an eine Unterhaltung mit ihrer Mutter. Es war im Sommer, vor Beginn ihres Referendariats, das am ersten Oktober beginnen sollte. Sie saßen abends allein auf der Terrasse. Vater war auf einem Wochenend-Symposium in München.
»Du hast dich sehr verändert seit Beginn deines Studiums«, hatte ihre Mutter das Gespräch begonnen.
»Ja, zum Glück! Weißt du, es war wirklich eine gute Idee von Papa, dass er mich nach Freiburg schickte. Du glaubst gar nicht, wie viele neue Eindrücke und Sichtweisen ich dort bekommen habe. Die WG wird mir fehlen, aber nachdem nun auch Kirsten und Laura zeitgleich mit mir ihr Studium beendeten, wäre ein weiteres Leben dort, nicht mehr das Gleiche gewesen. Ich habe erst dort bemerkt, wie behütet ich hier aufwachsen konnte. Dafür bin ich euch sehr dankbar, Mama, nicht dass du mich falsch verstehst; ich habe erst in Freiburg durch die WG gelernt, wie es ist, in anderen, weniger privilegierten Verhältnissen zu leben. Das hat mir für mein Jurastudium erst die Richtung gewiesen. Weißt du, nach Beendigung des Referendariats will ich eine eigene kleine Kanzlei eröffnen. Mein Schwerpunkt wird Arbeitsrecht sein. Vor allem will ich mich für die Rechte der
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