Milchmond (German Edition)
Seit diesem vermaledeiten Montag, an dem sie der Anruf der Ärztin wegen Jörg erreichte, war sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Hatte er nach dem Abschiedsbrief, den sie an Jörg geschrieben hatte, geglaubt, dass die zurückliegende fünfjährige Ehe mit ihrem Ex abgehakt wäre, so holte sie nun die Vergangenheit mit aller Macht wieder ein. Liebte sie Jörg vielleicht doch noch mehr als sie glaubte - sollte ihr gemeinsamer Liebesrausch eben doch nur ein flüchtiger Rausch gewesen sein?
Diese Frage stellte er sich ein ums andere Mal. Sie hatte gemutmaßt, dass er sich nicht anders verhalten würde; seine eigene Antwort darauf machte ihm Sorge. Angenommen, Sylvia hätte dieses Schicksal ereilt, wie hätte er sich verhalten? Er wusste die Antwort und kam sich selbst ein wenig schäbig dabei vor. Er wäre nicht zu ihr zurückgekehrt, sondern hätte eine Betreuung für sie organisiert. War er deshalb ein Egoist? Vielleicht. Er hatte sein ganzes Leben immer sehr zielstrebig gehandelt und sich vom einmal eingeschlagenen Kurs nur selten abbringen lassen. Diese Eigenschaft war ihm bisher als Tugend erschienen, jetzt bereitete ihm der Gedanke ein Gefühl eigener Unzulänglichkeit.
Frauen waren da wahrscheinlich anders gestrickt, sagte er sich. Sobald ein Pflegefall in ihr Leben kam, wurden sie vom Brut- und Pflegetrieb eingeholt. Weibliche Hormone spielten da sicherlich die tragende Rolle. Wirklich nur eine Sache der Hormone? Würde seine Liebe ausreichen, ein guter Vater und Familienernährer zu sein? Wenn er an seine eigene vaterlose Kindheit zurückdachte und an all die Opfer, die seine Mutter auf sich genommen hatte, damit es ihm an nichts mangelte, dann war er nicht sicher, ob er dieselbe Opferbereitschaft würde aufbringen können.
Solche Gedanken beherrschten ihn an diesem Morgen, und als er sich schließlich auf den Weg in die Kanzlei machte, fühlte er sich niedergeschlagen und entmutigt. Er erzählte weder Nob noch Prof etwas von den schlechten Neuigkeiten, weil er sich für seinen Enthusiasmus, den er kurz vor dem verhängnisvollen Anruf von Julia an den Tag gelegt hatte, nun schämte. Prof hatte ihn noch gewarnt, und er hatte selbstherrlich alle Ratschläge lachend in den Wind geschlagen. Nun fühlte er sich mit seinem Problem allein.
Jetzt stellte es sich als taktischer Fehler heraus, Julia nicht darauf gedrängt zu haben, ihrer Familie von ihrer Trennung von Jörg zu erzählen. Dadurch, da hatte Julia natürlich völlig recht, würde es sehr dumm aussehen, wenn die Familie von Jörgs Krankheit erfuhr und sie, Julia, gleichzeitig kundtat, dass sie sich scheiden lassen und einen anderen Mann heiraten wolle. Eine ganz verflixte Situation, die ihm überhaupt nicht schmeckte.
Dieser Donnerstag brachte eine weitere Überraschung: Kurz nachdem Julia ihren Vormittagsanruf mit den Worten beendet hatte: »Tobias sei stark und zweifle nicht, dass hier ist eine Bewährungsprobe für unsere Liebe; wenn sie die schon nicht besteht, wie sollte daraus ein Fundament für eine Familiengründung werden? Ich melde mich morgen wieder. Küsschen.«
Kaum war die Verbindung beendet, vibrierte das Handy erneut in seiner Hand und im ersten Augenblick dachte er, sie hätte noch etwas vergessen.
Als er das Gespräch annahm, war er wie vom Donner gerührt: Es war nicht Julias Stimme am anderen Ende der Leitung. Auf sein »Ja, noch was vergessen?«, reagierte die Stimme überrascht, aber prompt mit den Worten: »Ja, mich zu verabschieden!« Verblüfft horchte er in die Leitung und erkannte erst dann die Anruferin. »Sylvia, du?«
»Ja, mein Lieber, ich! Wen hattest du erwartet... du Schwerenöter?«
»Äh, entschuldige, aber ich bin nun doch ein wenig überrascht! Mit dir hab ich wirklich nicht gerechnet. Wie geht es dir?«
»Na, den Umständen entsprechend, würde ich sagen. Ehrlich gesagt, habe ich ein bisschen Sehnsucht nach dir. Hättest du Zeit auf einen kleinen Plausch im Toni's, wie in alten Zeiten?« Ihre Stimme hatte den verführerischen Klang, den sie immer hatte, wenn sie etwas von ihm wollte. Er sah ihr Gesicht urplötzlich vor sich, sah ihre großen Augen und den Mund mit den herzförmigen Lippen, die sich beim Formulieren dieser letzten Worte sehr wahrscheinlich in einem süffisanten Lächeln zu einem kleinen Herzchenmund formten.
Als er einige Sekunden überrumpelt schwieg, warf sie ihm einen weiteren Köder hin: »Ich ziehe fort aus Hamburg, weißt du?
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