Milchmond (German Edition)
gepackten Koffer auf dem Bett erblickte, wankte er und sein Gesicht wurde kalkweiß. Unverständnis stand in seinen Augen zu lesen. »Tobias, es ist etwas Schreckliches passiert. Ich muss ein paar Tage zurück nach Harvestehude. Jörg stirbt.« Plötzlich schossen ihr unvermittelt die lange zurückgehaltenen Tränen aus den Augen. Sie ging auf Tobias zu und umarmte ihn. Er stand steif und bewegungslos da, unfähig zu reagieren. Die ganze Situation schien ein Chaos widersprüchlicher Reaktionen in ihm auszulösen. »Wenn du meinst!«, hölzern und tonlos kamen die drei Worte von seinen Lippen.
»Tobias, lass uns ins Wohnzimmer gehen; ich muss es dir erklären.« Sie wechselten hinüber und setzten sich. Er sah sie mit unendlich traurigem Blick an. Er verstand das anscheinend völlig falsch, ließ sie aber ohne Unterbrechung die Sache schildern. Als sie zum Ende gekommen war, räusperte er sich. »Julia, du hast dich von deinem Mann getrennt - wir wollen uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Da kannst du doch jetzt nicht aus Mitleid zu deinem Mann zurückkehren und mich verlassen!« Groß und fragend ruhte sein Blick auf ihrem Gesicht.
»Ich verlasse dich doch nicht, Tobias! Wie kannst du so etwas denken? Aber er hat nur noch wenige Wochen zu leben und hat niemanden, der sich jetzt um ihn kümmern kann. Tobias, das ändert an unserer Liebe überhaupt nichts. Aber das bin ich ihm einfach schuldig! Ich würde mich sonst nicht mehr im Spiegel anschauen können. Das würdest du an meiner Stelle doch auch tun?«
»Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher. Aus ist aus! Ich würde nicht Mitleid mit Liebe verwechseln. Schuldig bist du ihm aus meiner Sicht überhaupt nichts. Solche Dinge sind Schicksal. Gerade haben wir das Haus in Poppenbüttel an der Hand, ich versuche die Wohnung zu verkaufen und du hast nichts Eiligeres zu tun, als deinen Koffer zu packen. Wie, bitte schön, soll ich das denn verstehen?«
»Tobias, bitte... ich liebe dich! Für mich gibt es keine andere Liebe als die zu dir! Meinen Mann habe ich auch lange Jahre geliebt, aber jetzt geht es ihm schlecht, und er wird sterben, da bin ich es ihm schuldig, zu helfen. Soll er vielleicht die letzten Tage seines Lebens im Pflegeheim zubringen?«
Tobias Züge entspannten sich bei diesen Worten ein wenig, und er nahm ihre Hand. »Ich habe doch nur so eine entsetzliche Angst, dass mir unser Lebensglück gerade davonläuft. Julia, bleib bei mir, bitte!«
»Es ist doch nur für kurze Zeit, Liebster, ganz bestimmt! Mach dir keine Sorgen und bitte, verstehe mich! Ich würde sonst alle Selbstachtung vor mir verlieren. Meine Familie weiß doch auch noch nichts von dir, wie stünde ich denn da, wenn jetzt alles auf einmal bekannt würde?«
Jetzt ergriff er beide Hände von ihr und drückte sie an seine Lippen. »Versprich mir, dass wir täglich telefonieren und dass wir uns trotzdem regelmäßig sehen, ja? Sonst stehe ich das alles nicht durch!«
»Ich verspreche es dir, Tobias!«
Kapitel 19
Eine grauenvolle Nacht lag hinter ihm, mehrere Male war er nachts schweißgebadet hochgefahren und hatte neben sich getastet, doch die Bettseite blieb leer. Er hatte wirres, zusammenhangloses Zeug geträumt, aber immer war Julia darin vorgekommen, und immer war sie ihm im Traum entglitten, und er hatte sich als verwirrter Trottel erlebt, der mit ausgestreckten Armen hinter ihr her lief und sie doch nicht fassen konnte. Ein irres, hohes Lachen, das hohl geklungen hatte, wie der sich verstärkende Echohall in einer engen Schlucht, hatte ihn immer wieder aus dem Reich der Träume gerissen.
Tobias lag schwer atmend in seinem Bett und hörte die Amseln den neuen Tag begrüßen. Es hatte keinen Sinn mehr wieder einschlafen zu wollen. Er stand seufzend auf und machte sich einen starken Kaffee, mit dem er wieder ins Bett zurück marschierte. Er setzte sich halb aufgerichtet hin und nippte an dem heißen Gebräu.
Seine Gedanken rotierten. Er schien einfach kein Glück mit Frauen zu haben: Erst hatte Sylvia sich nicht an seinen Zukunftsplänen interessiert gezeigt, dann, als ihm endlich die wirklich Große Liebe seines Lebens begegnet, muss Julias Mann todkrank werden. Es war zum Mäusemelken! Er überdachte die Situation. Julia hatte ihm versprochen, täglich Kontakt zu halten und hatte dies die letzten Tage auch getan, indem sie sich immer vormittags, gegen elf Uhr, von ihrem Handy aus gemeldet hatte.
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