Milchmond (German Edition)
emotionalen Menschen gesehen. Julia schien ihm jedoch gerade zu entgleiten. Seine uralten Befürchtungen, die er lange Zeit verdrängt hatte, tauchten wieder auf. Er hatte immer befürchtet, eines Tages sein Leben als Single bestreiten zu müssen, obwohl er seit langer Zeit den Traum von der eigenen Familie träumte. Er fuhr sich über die Augen. Diese heutige Verabredung behagte ihm nicht, und er fühlte sich fast, als würde er fremdgehen, was ja Blödsinn war. Sie waren alte Freunde, sie wollte fortziehen und sich von ihm verabschieden. Da war doch nichts dabei, schließlich würde er jederzeit Herr der Lage sein. Es konnte nichts passieren, was er nicht wollte.
Er wusste später selbst nicht mehr, wie ihm die Situation so gründlich hatte entgleiten können. Ab wann war es falsch gelaufen? Ab wann hätte er anders reagieren müssen? Immer und immer wieder ließ er die Szenen des gestrigen Abends vor seinem geistigen Auge abspulen.
Es hatte ihn nicht überrascht, dass sie erstklassige Karten in der ersten Reihe des 1. Saalranges bekommen hatte. Sie saßen ungefähr mittig und genossen einen unverstellten, prächtigen Blick auf das Bühnen-Geschehnen. Die hinreißenden Abba-Melodien und die zauberhaften Kulissen brachten sie in Partystimmung.
Sylvia verhielt sich an seiner Seite fast so, als hätte es die sechs Monate Trennung nie gegeben. Vertraut ergriff sie während der Vorstellung seine Hand und drückte sie wiederholt. Sie besaß sogar die Kühnheit, ihre Hand auf Entdeckungstour zu manövrieren, so dass ihm heiß und kalt wurde.
Nach dem Musical perlte ihrer beider Blut leicht wie Champagner in ihren Adern und wie selbstverständlich machten sie sich auf, um in einen ihrer früheren Szene-Treffs zu fahren, um noch einen Absacker zu genießen. Sie tanzten eng, sehr eng. Sylvia kannte überhaupt keine Berührungsängste. Ihm selbst erschien der ganze Abend im Nachhinein wie ein unwirklicher Traum. Diese Frau hatte noch immer eine starke Wirkung auf ihn, und sie wusste das intuitiv richtig einzuschätzen. Früh morgens, es musste schon fast halb drei gewesen sein, fuhren sie mit dem Taxi heim, und er ging mit in ihr Apartment, und ja, er wurde schwach! Die Nacht endete leidenschaftlich - an Schlaf war nicht zu denken gewesen.
Nun saß er wieder an seinem Schreibtisch, der Katzen-Jammer hatte ihn voll im Griff. Er fühlte sich mies. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte Julia ihn ermahnt, stark zu sein und angedeutet, dass ihre Liebe nicht an ihrer ersten Prüfung stranden dürfe und nun...?
Tobias kam sich vor wie ein Spielball, der von unbekannten Mächten hin und her geschoben wurde. Er verachtete sich für seine Schwäche. Sylvia hatte das Thema ihres Fortzuges aus Hamburg den Abend über auch nicht mehr aufgegriffen, stattdessen hatte sie Verständnis für seinen Wunsch nach Familiengründung angedeutet. Die Situation war reichlich verfahren.
Um dem gleich anstehenden Telefonat mit Julia zu entgehen, entschloss er sich, die Kanzlei unter einem fadenscheinigen Vorwand zu verlassen. Ella hatte er nur über die Schulter zugerufen: »Ich bin gegen Mittag zurück!«
Kapitel 20
Nachdenklich starrte sie die Geburtstagskarte an, die an ihrem Pinboard im Büro hing. 30! - Na und?, stand dort in großen Lettern der trotzige Geburtstagsspruch.
Mein Gott, wie hatte sie diesen Geburtstag gefürchtet! Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber sie hatte das Gefühl, ihre Jugendlichkeit mit diesem Datum einzubüßen. Solange eine Zwei ihr Alter anführte, konnte sie sich ohne Schwierigkeiten noch zum Kreis der jungen Frauen zählen. Das schien ihr nun, seit diesem 11. August, an dem sie versucht hatte, ihren Geburtstag zu verdrängen, nicht mehr möglich zu sein. So beschloss sie, dieses Datum, das auf einen Samstag fiel, einfach zu ignorieren.
Ihre Kolleginnen und Kollegen hatten am folgenden Montag natürlich nachträglich ihres Geburtstags gedacht, und so fand Sylvia morgens ihren Arbeitsplatz mit Konfetti, Luftballons und einem kleinen Blumenstrauß dekoriert vor. An dem Strauß hing ein Wellness-Gutschein für einen Tag in einem Spa, inklusive einer Kosmetikanwendung und einer Klangmassage.
An aufmunternden Sprüchen fehlte es ebenfalls nicht. Sie machte gute Miene zum bösen Spiel und gab in der Mittagspause einen aus. Nach kurzem Beisammensein verdrückten sich dann alle wieder an ihre Arbeitsplätze. Über den Gutschein freute sie sich
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