Milchmond (German Edition)
einerseits, aber natürlich meldete sich auch ihre innere Stimme zu Wort, die ihr hämisch zuflüsterte: Und ab vierzig bekommst du Seife und Stützstrümpfe geschenkt!
Er erinnerte sie nur allzu deutlich an die Vergänglichkeit jugendlicher Frische und Schönheit. Klar, sie sah immer noch sehr gut aus, und sie war ja mit ihrem Äußeren so weit auch zufrieden, aber wenn sie sich mit den jungen Dingern aus den anderen Redaktionen verglich, dann strahlten ihre Augen und ihr Gesicht schon eine gewisse Reife aus (welch freundliches Wort), und die ersten feinen Linien zeichneten sich in ihre Züge.
Dieser Geburtstag hätte es also mit Fug und Recht verdient, aus den Annalen gestrichen zu werden. Auch wurde ihr an diesem einsamen Tag klar, wie isoliert sie sich seit der Trennung von Tobias fühlte. Ihrer Familie hatte sie sich längst entfremdet und seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater gehalten. Ihre beiden Brüder lebten ebenfalls in anderen Welten – Welten, die ihr spießig und langweilig vorkamen und die sie deshalb mied. Benno von Kühnheim nervte und war keine echte Alternative zu Tobias.
Das heulende Elend packte sie bei diesem traurigen Resümee. Schließlich ertrug sie die Einsamkeit ihrer Wohnung nicht mehr und fuhr mit dem Taxi in die City, um sich ins Getümmel des Hamburger Nachtlebens zu stürzen. Der Abend endete mit einem totalen Absturz. Zum Glück lernte sie frühmorgens noch diesen Typen mit der dunklen Mähne kennen, der ebenfalls reichlich mies drauf war, weil ihn seine Holde verlassen hatte. So saßen sie beide reichlich betrunken im Club am Tresen und bemitleideten sich gegenseitig.
Der Typ meldete sich am nächsten Tag bei ihr (sie hatte ihm leichtsinnigerweise im betrunkenen Zustand ihre Nummer gegeben) und entschuldigte sich für seine, wie er meinte, wenig erbauende Art vom Vortag. Um sich von ihrem eigenen Elend abzulenken, verabredete sie sich nachmittags mit ihm zum Kaffee. Überrascht musste sie allerdings feststellen, dass er sich nicht wirklich für sie interessierte, sondern sich als frisch Verlassener noch reichlich seinem Selbstmitleid hingab. Das kannte sie aus eigener Erfahrung nur zu gut, und so versuchte sie, ihn mit passenden Worten ein wenig aufzumuntern.
Wider Erwarten stellte sich dieses Treffen dann doch noch als interessant heraus, denn im Verlaufe des Nachmittags stellte Sylvia überraschende Überschneidungen ihrer beiden Lebensläufe fest. Manchmal konnte eben auch eine Großstadt wie Hamburg ein Dorf sein…
Anschließend überschlugen sich die Ereignisse förmlich. Sylvias depressive Stimmung wich einem neuen Elan, der selbst ihren Kollegen auffiel, und sie zogen sie auf mit Worten wie: »Hey, was rauchst du neuerdings? Du bist ja wie ausgewechselt!« Darauf konterte sie lachend und gut gelaunt: »Ihr wisst doch, mit dreißig fängt das Leben erst so richtig an, weil man dann erst weiß, was man wirklich will!«
»Und noch einmal vielen Dank für die beiden Musicalkarten!«
»Hat sich's denn gelohnt?«
»Kann man wohl sagen. Es war toll, in jeder Beziehung, Danke, Chris!« Beim Verlassen der Kantine hatte sie ihren Redaktionschef getroffen, der den ganzen Vormittag außer Haus gewesen war. Wie gut, dass er keine Zeit hatte, den gestrigen Musicaltermin wahrnehmen zu können und ihr deshalb die Karten, in einem Anflug von Gönnerhaftigkeit, mit den Worten überließ: »Für deine gute Arbeit und um dir zu zeigen, wie zufrieden ich mit deinem Engagement bin!«
Da sie gleich noch einen Außentermin hatte, ging sie hinunter zum Parkplatz. Als sie vor die Tür trat, wehte ihr ein Schleier aus feinem Nieselregen entgegen. Sie entnahm ihrer geräumigen Umhängetasche einen Mini-Schirm und fluchte über den Öffnungsmechanismus. Beim dritten Versuch sprang der Schirm endlich auf.
Mit raschen Schritten überquerte sie den Innenhof. Als sie an der Ecke des Verwaltungsgebäudes ankam, sah sie sich plötzlich dem Wind mit aller Macht ausgesetzt. Der Schirm ploppte um und reckte seine Speichen dem trüben Himmel entgegen. Egal, jetzt schnell rüber zum Auto. Sie warf das Fragment eines Schirms auf den Rücksitz und schlug die Tür hinter sich zu.
Nicht ärgern!, ermahnte sie sich selbst. Was war schon so ein bisschen Regen, gegen all das Glück, das sie in den letzten vierundzwanzig Stunden erfahren hatte? Erst bekam sie unverhofft die Karten geschenkt, dann gelang es ihr, Tobias zu einem
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