Milchrahmstrudel
den Namen Roland Becker hätten sie nie gehört, und der Mann auf dem Foto sei ihnen ebenso unbekannt wie alle übrigen Personen darauf.
Da verstaute Fanni die Broschüre wieder in ihrem Rucksack, schwang ihn auf den Rücken, nickte Sprudel zu, und sie begannen den Abstieg ins Tal.
Die erste steile Wegpassage brachten sie schweigend hinter sich, denn auf dem engen Pfad mussten sie hintereinander laufen und verstärkt auf ihren Tritt achten, was eine Unterhaltung schier unmöglich machte.
Als sie die Talstation der Materialseilbahn erreicht hatten, von wo an der Weg bequemer wurde, sagte Sprudel: »Kann das ein Zufall sein?«
Fanni wusste sofort, was er meinte. Auch sie hatte die ganze Zeit über einen möglichen Zusammenhang zwischen Schwester Inges Aufenthalten im Dilly’s und jener Postkarte gegrübelt, die annehmen lassen wollte, Roland Becker würde den Sommer auf der Zellerhütte verbringen.
»Nein, an Zufall will ich nicht recht glauben«, antwortete sie. »Aber ich kann nicht den winzigsten – ähm – Verbindungsgrat sehen.«
Verbindungs grat ? Nun gut, wir befinden uns in den Bergen!
»Dann muss es doch Zufall sein«, brummte Sprudel.
»Auf jeden Fall ist die ganze Angelegenheit undurchsichtig und verworren«, sagte Fanni. »Es lässt sich überhaupt keine Linie erkennen, der man folgen könnte. Nur eins scheint jetzt klar zu sein: Die Nachrichten sind getürkt; das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass Roland tatsächlich tot ist, wird immer größer.«
»Linie«, wiederholte Sprudel versonnen. »Wenn ich mir die beiden Informationen als geometrische Figur vorstelle, sehe ich zwei Vektoren, die von der Katherinenresidenz nach Windischgarsten weisen.«
»Womöglich gibt es sogar noch einen dritten«, sagte Fanni amüsiert. »Einen, der den andern beiden die Richtung anzeigt, oder einen, der sie kreuzt.«
Sprudel sah sie missbilligend an. »Rosmarie hat aber auf dem Foto außer der Schwester niemanden erkannt.«
»Was nichts heißen muss«, entgegnete Fanni.
»Das würde ich nicht sagen«, widersprach Sprudel. »Windischgarsten ist ein recht kleiner Ort. Rosmarie arbeitet in der Gastronomie …«
»Trotzdem«, entschied Fanni. »Rosmarie kann nicht jeden kennen, der sich hier in der Gegend rumtreibt, auch wenn er fünfmal auf dem Foto abgebildet wäre.«
Weil Sprudel daraufhin schwieg, fuhr sie fort: »Aber lassen wir den hypothetischen dritten Vektor getrost beiseite. Wir haben nämlich schon genug mit den beiden zu tun, die sich uns zeigen. Wenn es sich also nicht um einen wirklich seltsamen Zufall handelt, muss es einen Zusammenhang zwischen Schwester Inges Aufenthalt in diesem Dilly’s und der Falschmeldung geben, Roland befände sich auf der Zellerhütte.«
Sie hatten es jetzt nicht mehr weit zum Schafferteich. Die Sonne stand so kurz nach Johannis noch hoch.
»Sechs Uhr«, sagte Fanni mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Melkzeit.«
»Du glaubst also, die Buben sind nach wie vor im Stall?«, fragte Sprudel.
»Und da werden sie allermindestens bis halb acht auch bleiben«, antwortete Fanni.
Sprudel deutete auf das grasbewachsene Teichufer, das vor ihnen lag. »Haben wir uns nicht eine kleine Rast verdient?«
»Ein halbes Stündchen könnten wir uns schon gönnen«, erwiderte Fanni. »Dann müssen wir aber zurück und fürs Abendbrot sorgen. Ich habe den beiden Spaghetti Carbonara angekündigt.«
Sie warfen die Rucksäcke in den Kofferraum des Wagens, zogen die Bergstiefel aus und liefen auf den Teich zu. Sprudel hatte eine plüschige Decke von der rückwärtigen Ablage genommen, die er unter dem Arm trug. Auf einem satten Graspolster nahe der Wasserfläche breitete er sie aus.
Und dann lagen sie in der Abendsonne, und jene wohlige Müdigkeit, die der Lohn einer moderaten Aktivität im Freien ist, überkam sie.
Sprudel nahm Fannis Hand und behielt sie in der seinen.
Fanni döste ein.
Doch das erwies sich als zerstörerisch für die Idylle.
Sie schreckte von einem Traumbild hoch, in dem die Schwestern der Katherinenresidenz mit Nagelscheren und Pinzetten auf Roland Becker einstachen.
»Was, wenn ihn eine der Schwestern auf dem Gewissen hat?«, sagte sie wachgerüttelt.
»Motiv: verschmähte Liebe«, antwortete Sprudel lethargisch.
Fanni setzte sich auf. »Aber wie hätte sie Rolands Leiche ohne Hilfe beseitigen sollen?«
Sprudel seufzte. Die Ruhepause war offensichtlich zu Ende.
Die Buben hatten bereitwillig beim Abwasch geholfen. Nun saßen sie am Esstisch, die
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