Milchrahmstrudel
hauptsächlich Schwestern treppauf, treppab eilen, jemand seine vermeintliche Leiche auffinden und weglaufen würde, ohne ihr zuvor den Finger an die Pulsader zu legen. Wobei dazu noch jedem, der sich zu ihm hinuntergebeugt hätte, der Geruch von Tomatenketchup in die Nase gestiegen wäre.«
Fanni drückte seine Hand. »Habe ich zu viel Wein getrunken?«
Sprudel hob die Flasche hoch. Sie war noch zu einem Viertel voll.
»Es liegt nicht am Wein«, sagte er. »Es liegt daran, dass es in diesem Fall zu wenig Konkretes gibt und zu viele Ungereimtheiten. Das vermag einen schon mal auf Irrwege zu bringen. Wir sollten Schluss machen für heute.«
Doch das konnte Fanni nicht.
Sie nahm den Spiralblock, den sie am Rand des Sofas abgelegt hatte, und blätterte ihn zum x-ten Mal durch; las murmelnd die Überschriften. » A . S . 24.9., R . N ., O . P . 13.10. …« Auf einer der Seiten stand: » L . B . 22.6.« Diesen Eintrag starrte Fanni lange an. Schließlich begann sie zögernd zu sprechen:
»Am Mittwoch, dem 23. Juni, habe ich Roland tot oder schwer verletzt auf der Hintertreppe entdeckt. Tags zuvor – also am 22. – ist Herr Bonner verstorben. Falls Herr Bonner mit Vornamen Ludwig hieß oder Leopold, handelt es sich bei den Überschriften um Initialen und Sterbedaten von Bewohnern der Katherinenresidenz.«
Sprudel wirkte beeindruckt. »Das würde auch begreiflich machen, warum nicht neben allen Initialen Daten stehen.«
Fanni nickte zufrieden. »Die Überschriften könnten damit geklärt sein. Aber was bedeuten die Kürzel und Zahlen darunter?«
»Wir müssen das überschlafen«, verlangte Sprudel.
Diesmal stimmte ihm Fanni zu.
Sie stand auf, verließ die Küche und warf einen Blick in das Zimmer der Jungen. Beide lagen schlafend auf dem unteren Bett, der Bildband offen zwischen ihnen. Ivos Kinn ruhte auf dem Euter einer schwarz-weiß gescheckten Kuh.
Wie Fanni vorhergesehen hatte, konnten sie am folgenden Tag die Heimreise erst gegen Mittag antreten. Und selbst das kostete Fanni das feste Versprechen auf weitere gemeinsame Wochenenden von Max und Ivo im Stall vom Bauer am Gunst.
Die Bäuerin lud sie beim Abschied herzlich zum Wiederkommen ein und drückte Fanni ein Päckchen Broschüren in die Hand. »Schaun Sie sich die Prospekte an, Frau Rot, dann werden Sie selbst sehen, was unsere Region alles zu bieten hat. Zwischen Pyhrn und Priel hat sich eine Menge getan in den letzten Jahren. Ihnen wird nicht langweilig werden, wenn Sie wiederkommen.«
Fanni dankte ihr lächelnd. »Nein, langweilig wird einem hier bestimmt nicht.«
Sie und Sprudel hatten am Morgen gemütlich gefrühstückt und danach noch mal fruchtlos über Rolands Aufzeichnungen gebrütet, bis Fanni zu Sprudels Erstaunen »Jetzt reicht’s mir aber« gerufen und angekündigt hatte: »Morgen besuche ich Tante Luise in der Katherinenresidenz und zeige ihr den Notizblock. Wenn jemand mit diesen Kürzeln was anfangen kann, dann sie.«
»Den Versuch ist es wert«, hatte ihr Sprudel bereitwilligst beigepflichtet.
Dann hatten sie einen kleinen Spaziergang um den Psalmenweg im Kirchenpark gemacht; nach ihrer Rückkehr auf den Hof hatten sie noch ein Schwätzchen mit der Bäuerin gehalten.
Nun saßen sie in Sprudels Wagen und fuhren in den ersten der vielen Tunnels ein, die zwischen Pyhrnpass und Voralpenkreuz für eine angenehm befahrbare Trasse sorgten. Wie für einen Sonntagnachmittag zu erwarten, war das Verkehrsaufkommen gering.
Max und Ivo unterhielten sich auf der Rückbank in gedämpftem Ton. Fanni und Sprudel schwiegen.
Nach dem dritten Tunnel begann Fanni in Sprudels CD s herumzukramen. Sie fand eine von Elvis und legte sie auf. »I want you, I need you, I love you.« Sprudel wandte den Blick von der Straße und sah sie mit einem Ausdruck an, den Fanni nicht deuten konnte.
Elvis spricht ihm – nein, singt ihm aus der Seele!
Mir auch, dachte Fanni, mir auch.
Gegen drei Uhr nachmittags passierten sie die Anschlussstelle Deggendorf-Mitte. Elvis sang zum dritten Mal »Love me tender«, denn Fanni hatte die CD immer wieder von vorn beginnen lassen.
An der nächsten Ausfahrt mussten sie von der Autobahn abfahren; dann waren es nur noch ein paar Minuten bis Erlenweiler.
Und am Erlenweiler Ring werden heute ganz bestimmt sämtliche Nachbarn Muße haben zuzuschauen, wie Fanni Rot aus Sprudels Wagen steigt, und sie werden es Hans Rot bei erstbester Gelegenheit unter die Nase reiben!
Fanni wurde es trotz aller Selbstbefreiung
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