Miles Flint 01 - Die Verschollenen
hatte sich selbst aus einem einzigen Grund davor bewahrt, dieses Kind zu sehen: Sie wusste, dass sie durch das Gesetz verpflichtet sein würde, den Jungen den Wygnin zu übergeben.
»Sie sagten, Sie hätten eine Lösung gefunden«, wandte Reese sich an Carryth.
»Es ist riskant«, erwiderte der, »und die Stadt müsste die Verantwortung übernehmen. Sollten die Wygnin unser Angebot ablehnen, müssten wir ihre ursprüngliche Forderung erfüllen.«
Reese schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich wollte er sagen, das sei unmöglich, also kam DeRicci ihm zuvor.
»Wir werden uns den Gesetzen beugen.«
Reese beäugte sie finsteren Blicks. »Sie sind zu mir gekommen, um herauszufinden, ob wir das umgehen können, und ich halte das nicht für gerecht. Wir können nicht …«
»Wir können und wir werden«, fiel ihm DeRicci ins Wort. »Normalerweise würden Sie gar nichts davon erfahren, weil alles vollkommen klar ist, aber in diesem Fall ist das anders, und das liefert uns einen Ansatzpunkt, nicht wahr, Mr. Carryth?«
»Eigentlich nicht. Der Vollzugsbefehl ist korrekt«,antwortete er. »Ich habe ihn ebenso studiert wie die zugrundeliegende Geschichte. Nur, wenn man beides gemeinsam betrachtet, ergibt sich ein mögliches Schlupfloch.«
DeRicci spürte, wie ihr der Atem stockte. So sehr sie sich so etwas gewünscht hatte, hatte sie doch nicht damit gerechnet.
»Zunächst hatten die Wygnin ein Kleinkind gewollt, das sie formen können. Jasper Wilder ist dafür so ungeeignet wie ein Erwachsener. Der Vollzugsbefehl gestattet ihnen lediglich den Zugriff auf das erstgeborene Kind oder auf Mrs. Wilder selbst, nicht aber auf die anderen Kinder.«
»Ist das sicher?«, hakte DeRicci nach.
»Das war auch meine erste Frage«, sagte Mrs. Wilder. »Meine Tochter ist erst achtzehn Monate alt.«
DeRicci nickte.
»In diesem Punkt ist der Vollzugsbefehl eindeutig, und das ist unser Glück. Den Wygnin bleibt nur eine unbefriedigende Vergeltung. Sie bekommen nicht das Familienmitglied, mit dem sie gehofft hatten, all die Verluste wieder gutmachen zu können, die Mrs. Wilder in unbeabsichtigter Weise verursacht hat.«
»Hören Sie mit dem Anwaltsgefasel auf«, forderte DeRicci, »und sprechen Sie Klartext.«
»Der Vollzugsbefehl besagt, dass sie sich mit mir begnügen müssen, sollte ich keine Kinder bekommen.« Zum ersten Mal lag wieder etwas Kraft in Mrs. Wilders Stimme. »Mr. Carryth denkt, dass wir argumentieren könnten, mein erstgeborenes Kind sei ihren Zwecken nicht angemessen.«
»Und?«, fragte Reese.
Aber DeRicci war ihm schon weit voraus, und sie fühlte einen Schauder des Entsetzens, der ihren Körper erfasste. »Sie wollen sich opfern.«
Mrs. Wilder nickte. »Ich bin die Person, die den Fehler gemacht und nach deren Gesetzen ein Verbrechen begangen hat. Ich sollte bestraft werden, nicht Jasper.«
DeRicci beugte sich vor. »Sie wissen, dass das schlimmer ist als der Tod. Sie wissen, dass die versuchen werden, Ihnen eine Wygninpersönlichkeit aufzupfropfen, und das wird Sie wahrscheinlich in den Wahnsinn treiben.«
Mrs. Wilder sah ihr in die Augen. »Das Gleiche würden sie auch Jasper antun.«
DeRicci schüttelte den Kopf. »Das ist nicht akzeptabel. Es muss einen anderen Weg geben.«
»Die Wygnin haben einen rechtmäßigen Vollzugsbefehl«, entgegnete Carryth. »Jemand muss für das Verbrechen bezahlen.«
»Es war ein Missverständnis«, sagte Reese.
»Ein Missverständnis, das Leben gekostet hat.« Mrs. Wilder legte die gefalteten Hände auf den Tisch und schaffte es irgendwie, die Ruhe zu bewahren. »Das ist schon in Ordnung, Detective. Ich bin bereit zu gehen.«
»Was sagt Ihr Mann dazu?«
»Er weiß es noch nicht«, antwortete sie. »Wir wollten zuerst herausfinden, ob uns die Stadt bei den Verhandlungen zur Seite stehen wird.«
Reeses Mundwinkel wanderten abwärts, als hätte er etwas Bitteres gegessen. »Sie haben alle Möglichkeiten durchgespielt?«, fragte er Carryth.
»Wir können von Glück reden, dass wir diese eine haben«, entgegnete der.
»Von Glück?«, wiederholte DeRicci, unfähig zu glauben, was sie hier zu Ohren bekam.
»Von Glück«, bekräftigte Mrs. Wilder mit fester Stimme.
Reese schloss die Augen und seufzte. »Dann werden wir Sie unterstützen«, sagte er. »Eine andere Wahl haben wir nicht.«
22
J amal?«
Er schlug die Augen auf. Sein Nacken schmerzte, und sein rechter Fuß kribbelte, weil die Blutzufuhr unterbrochen war.
Er war im schäbigsten Hotelzimmer des Mondes
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