Miles Flint 02 - Die Lautlosen
Außerdem zog der Marathon stets mehr männliche Erstläufer an als weibliche; also war die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann in diesem Teil des Zelts landete, größer als die, dass eine Frau hier behandelt werden musste.
Trotzdem achtete Oliviari darauf, sich jede der Frauen anzusehen. Keine von ihnen sah wie Tey aus, und die meisten waren zu jung, auch wenn Tey einen Haufen Modifikationen hatte vornehmen lassen. Oliviari ging zu jedem Bett, legte den Frauen beruhigend die Hand auf die Schulter und erkundigte sich, ob sie irgendetwas brauchen würden.
Jede Einzelne verneinte.
Und Oliviari kehrte zu ihrem Posten zurück.
Hayley sah vollkommen überlastet aus. Die Schlange hatte sich zusammengeschoben, und die Leute drängelten sich nun in drei oder vier Reihen vor ihr. Das Diagnosegerät lag hinter Hayley auf dem Tisch, offensichtlich unbenutzt und unbeachtet.
Anzüge stapelten sich ebenfalls hinter ihr, da sie eindeutig keine Gelegenheit gehabt hatte, sie in den Dekontaminationsraum zu bringen, was Oliviari ein Lächeln entlockte. Vielleicht hatte die Tatsache, dass sie dem armen Mann geholfen hatte, ihrer Suche doch nicht geschadet.
Oliviari schnappte sich das Diagnosegerät und ging zu Hayley.
»Hey«, sagte sie sanft. »Lassen Sie die Anzüge doch liegen. Ich helfe Ihnen nachher, sie einzusammeln, okay? Wir sind gerade in der heißen Phase; da haben wir schon genug damit zu tun, überhaupt mitzukommen.«
Hayley bedachte sie mit einem wütenden Blick. »Sie hätten Ihren Posten nicht verlassen dürfen.«
»Außer in einem Notfall«, entgegnete Oliviari. »Der Mann ist direkt vor meiner Nase in Ohnmacht gefallen. Das sollte wohl als Notfall durchgehen.«
Hayley presste die Lippen zusammen und sagte nichts mehr dazu, denn ein weiterer Läufer drückte ihr schon seinen Anzug in die Arme. Oliviari drängelte sich vor und schob Hayley von ihrem Platz weg. Sie wollte imstande sein, jeden dieser Anzüge zu berühren.
Oliviari untersuchte den Läufer mit ihrem Diagnosestift und sagte: »Sie brauchen Flüssigkeit und vermutlich auch etwas zu essen. Hinter der Tür dort ist eine Saftbar. Ich schlage vor, Sie holen sich erst etwas zu trinken, ehe sie sich zurechtmachen. Davon abgesehen ist bei Ihnen alles in Ordnung.«
Der Läufer lächelte ihr zu, und sie erwiderte das Lächeln. Dann ließ sie seine DNA-Probe in ihren Beutel gleiten und fuhr fort, Ratschläge zu erteilen, während sie ein winziges Stückchen von jeder Person stahl, die vor ihr stand und ein bisschen Hilfe erwartete.
10
A ls Flint in sein Büro zurückkehrte, stellte er sofort alle Sicherheitssysteme auf höchste Empfindlichkeit, ließ die Türen durch das System doppelt abschließen und versiegeln und sein internes Netz runterfahren, sodass alle Kontakte, die er zur Außenwelt unterhielt, unterbrochen wurden.
Dann initiierte er eine Systemdiagnose, suchte nach Trackern, Tracern, Geisterdateien und Gerätefehlern. Er fand Echos am Rand des Systems, verschiedene Stellen, an denen diverse Leute versucht hatten, in sein System einzubrechen, aber keinen Hinweis darauf, dass jemand Erfolg gehabt hätte.
Flint programmierte das Diagnoseprogramm neu und nahm sämtliche Codes und Backdoors von Paloma heraus. Das hätte er bereits tun sollen, als er ihr das Geschäft abgekauft hatte, aber er hatte ihr vertraut, trotz ihrer Warnungen, er dürfe nun, da er Lokalisierungsspezialist sei, niemandem mehr trauen.
Flint hatte stets gedacht, Palomas Warnung, Kopfgeldjäger, Aliens und andere könnten sich einem Lokalisierungsspezialisten durch die Personen nähern, die ihm nahestanden, wäre schon deshalb überflüssig gewesen, weil das zu erwarten war. Wurde ein geliebter Mensch bedroht, würde natürlich auch ein Lokalisierungsspezialist jede Forderung erfüllen. Flint hatte jedoch geglaubt, darauf vorbereitet zu sein.
Aber ihre Warnung hatte mehr umfasst. Das Problem war subtiler und komplizierter, als ihm bewusst gewesen war. Niemand sah sich die Leute, die ihm nahe standen, ebenso genau an wie einen Fremden. Ein geliebter Mensch konnte dem Geschäft eines Lokalisierungsspezialisten mehr schaden als irgendjemand anderes.
Paloma stand Flint nahe, und er vertraute ihr so sehr, wie er seit Jahren niemandem mehr getraut hatte. Aber auch sie hatte ihre Geheimnisse – Geheimnisse, die seiner Arbeit möglicherweise schaden konnten.
Die Tatsache, dass er sie nicht vollständig aus seinem Geschäft herausgehalten hatte, war sein Fehler, nicht ihrer.
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