Miles Flint 03 - Die Tödlichen
sich auf die Unterlippe. Die Ähnlichkeit mit Carolyn war nicht mehr feststellbar; dafür sah er in dieser Haltung beinahe aus wie der Richter.
Wie ein Großvater, den Taylor niemals kennenlernen würde.
Flint blinzelte und dachte: Carolyn war das einzige überlebende Kind gewesen, und Taylor war ihr einziges Kind – zumindest, soweit er es bisher beurteilen konnte. Das bedeutete, dass Taylor das Vermögen der Lahiris erben würde.
»Sie scheinen nicht überrascht zu sein«, sagte Flint nach kurzem Schweigen.
Taylor hielt den Kopf noch immer gesenkt und zuckte mit den Schultern. »Sie und Daddy haben immer gestritten, wissen Sie? Haben komisches Zeug geredet. Irgendwas über Überleben. Er hat gesagt, sie könne ohne ihn nicht überleben. Nicht so, wie man das vielleicht zu einem Mädchen sagt. Dass sie ohne einen nicht leben kann. Er hat gesagt, sie könne nicht überleben. Als wäre jemand hinter ihr her. Das habe ich damals jedenfalls immer gedacht. Hab’s meinem Daddy auch mal gesagt. Er hat nur gelacht, so wie Leute lachen, wenn sie lügen, und gesagt, ich würde mir was einbilden. Aber er wollte nicht, dass ich bei Mama bleibe, als sie sich getrennt haben. Er hat auch Angst gehabt.«
Nun war Flint verblüfft. Hatte Carolyns Ehemann gewusst, dass sie eine Verschwundene war? Dann hätte sie alle Regeln des Verschwindens gebrochen. Es sei denn …
»Wie alt sind Sie, Mr Taylor?«
»Neunundzwanzig«, antwortete er automatisch. Dann blickte er auf. »Sie ist vor dreißig Jahren verschwunden, und …«
Seine Stimme verhallte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich wurde hier geboren. Ich habe die Geburtsurkunde und alles.«
Die könnte gefälscht worden sein, aber Flint zweifelte daran. Nicht wegen des Namens. Wenn Leute verschwanden, versuchten sie meist, so viel Wahres wie möglich zu bewahren. Ein Baby, das anderenorts geboren wurde, erhielt eine neue Identität und übereinstimmende Geburtsdaten, ohne dass dabei sein Alter verfälscht wurde.
»Und Ihre Eltern sind beide auf der Geburtsurkunde aufgeführt?«, fragte Flint.
»Teufel, ja«, antwortete Taylor lebhaft. »Mama und Daddy sind schon zusammen zur Schule gegangen.«
Flint legte die Stirn in Falten.
»Mein Daddy ist mein Daddy«, sagte Taylor, als würde es ihn kränken, dass Flint anderer Ansicht sein könnte. »Sehen Sie? Augen und Haare, nichts getrickst oder modifiziert. Dafür hab ich kein Geld gekriegt.«
Er zeigte auf eines der Fotos, aber dieses Bild war nicht schwarzweiß. Es war eines jener Familienbilder, die im Stil jahrhundertealter kommerzieller Fotografie gehalten waren, und es zeigte eine Familie, die vor einem blauen Hintergrund in gekünstelter Haltung posierte.
Carolyn war da, und sie sah viel jünger und ihre Augen viel trauriger aus. Auf ihrem Schoß winkte ein junger Ian mit der Faust in die Linse. Und neben ihr stand ein Mann, die Hand auf ihrer Schulter, das Gesicht so vertraut, das Flint die Luft wegblieb.
Ali Norbert. Der letzte vermisste Angehörige jener Gruppe, die nach Etae gegangen war. Ali Norbert mit seinem kastanienbraunen Haar und den leuchtend grünen Augen, eine Hand besitzergreifend auf der Schulter seiner Frau, als wolle er sie niederhalten.
»Überrascht mich nicht, dass Mama abgehauen ist«, sagte Taylor derweil. »Die war immer auf der Flucht. Vielleicht hat sie meinem Daddy was eingeredet. Er ist grundsolide. Alter Militär. Der Typ, den man braucht, wenn man irgendwie in Not ist. War für mich da, auch wenn ich ihn nicht haben wollte.«
Flint musste sich zwingen, sich wieder auf Taylor zu konzentrieren.
»Meine Mama, die war kälter als kalt. Hat mich nie gewollt, schätze ich, und als ich zu ihr gegangen bin, so mit zehn oder so, von zuhause abgehauen, wie Kinder das eben tun, und ich ihr gesagt habe, dass ich jetzt bei ihr wohnen könnte – da war sie im Quarter, hat Musik gemacht, alles ganz toll, und ich habe gedacht, sie wäre die perfekte Mom –, da sagt sie: ›Du willst mich gar nicht, kleiner Junge. Ich wäre nur genauso wie mein Vater, und am Ende bist du unglücklich und wirst mich hassen. Dann fang lieber jetzt an, mich zu hassen, und wir können das Unglücklichsein auslassen.‹«
Flint schluckte. Er konnte beinahe hören, wie Carolyn so etwas sagte.
»Das habe ich Daddy erzählt, nachdem sie mich nach Hause geschickt hat, und der hat gesagt: ›Sie hat recht. Ihr Vater ist ein Mistkerl.‹ Und jetzt kommen Sie und erzählen mir, sie ist zu ihm nach Hause gelaufen, zu diesem
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