Miles Flint 06 - Kallisto
vertreiben.
»Ist es schlimm?«, wollte er wissen.
Sie nickte. Ihrer Stimme traute sie nicht.
»Was mache ich jetzt?« Er machte Anstalten, sich aufzusetzen. »Jetzt muss ich in die Dekontaminationskammer, nicht wahr?«
Sie legte ihm eine Hand auf den Brustkorb – die freie Hand, diejenige, die keine Spritze hielt. »Das können wir hier in Ordnung bringen.«
Ihre Stimme klang erstickt. Sie verschluckte die Hälfte ihrer Worte, und sie fragte sich, ob er die Furcht in ihrer Stimme hören konnte.
So etwas hatte sie noch nie zuvor getan. Man hatte sie eingehend untersucht, ehe sie bei Aleyd eingestellt worden war, und die Untersuchung hatte ergeben, dass sie imstande sei, eigenhändig jemanden umzubringen, und sie hatte geglaubt, das Ergebnis würde ihre Karriere ruinieren, doch niemand hatte etwas gesagt. Seither hatte sie immer wieder darüber nachgedacht und sich gefragt, ob sie – wenn es einmal so weit käme – wirklich fähig wäre, einem anderen Menschen wehzutun.
»Wie?«, fragte er, und er hörte sich so nervös an, wie sie sich fühlte.
Für einen Moment dachte sie, er wollte wissen, wie sie davonzukommen gedachte, und sie errötete. Dann erst wurde ihr klar, was er tatsächlich hatte wissen wollen. Wie konnte sie ihn heilen?
Er war nicht krank. Er war überhaupt nicht kontaminiert.
»Ich habe immer noch die Medizin zu meiner Behandlung. Sie haben die gleichen Probleme, nur nicht so ausgeprägt. Strecken Sie den Arm aus.«
Sie ergriff seinen linken Arm. Die Haut fühlte sich fettig und weich an, nicht fest und muskelgestützt, wie sie es erwartet hatte.
Und sie war wirklich froh. Froh, dass er sie anwiderte. Froh, dass er nicht gemerkt hatte, wie viel Angst sie nun hatte.
Er streckte den Arm aus, entblößte das verwundbare Fleisch auf der Innenseite des Ellbogens für sie. Sie legte die Spritze auf seine Haut und presste sie an den Arm, aber nichts passierte.
Dann fiel ihr ein, dass sie die Spritze selbst erst aktivieren musste. Mit einet knappen Bewegung des Daumens holte sie es nach, und die Medizin strömte hervor, durchdrang seine Haut.
»Wie lange dauert es, bis es wirkt?« Sein Blick begegnete dem ihren, und seine Augen sahen sie vertrauensvoll an. Wie war es möglich, dass er ihr vertraute, obwohl er doch wusste, dass sie ein Entführungsopfer war, eine Frau, die entkommen wollte?
»Nicht lange«, sagte sie.
Er lächelte und schloss die Augen. Nun sah er noch jünger aus, und das, was sie bisher für Dummheit gehalten hatte, mochte plötzlich ebenso gut ein Zeichen von Jugend und Unerfahrenheit sein. Der Beschaffer hatte gesagt, sie würden sonst nie mit Menschen arbeiten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihm nicht geglaubt.
Er atmete ruhig und regelmäßig. Die Droge hatte dafür gesorgt, dass er eingeschlafen war.
»Wie lange bleibt er ohne Bewusstsein?«, fragte sie den Computer.
»Unter Einbeziehung von Größe, Gesundheitszustand und Prädisposition für das Pharmazeutikum: sechs Erdenstunden.«
Nicht lange genug. Wenn sie den Beschaffer bis dahin nicht ausschalten konnte, hatte sie es wieder mit zwei Gegnern zu tun, und dieses Mal würden sie ihr nicht über den Weg trauen.
»Was würde eine zweite Dosis bewirken?«, erkundigte sie sich.
»Atemstillstand. Tod. Das ist nicht empfehlenswert.«
Nicht empfehlenswert . Was für eine alberne Art, tu das nicht zu sagen.
Sie betrachtete die Auflistung der Einsatzgebiete des Tischs.
Er verfügte über ein Rettungsprogramm. Er konnte die Droge aus seinem Körper entfernen, sollte sie ihm eine Überdosis verabreichen.
Sie atmete keuchend und flach. Aus irgendeinem Grund brannten Tränen in ihren Augen. Als die Gyonnese sich bei Aleyd über ihre nährstoffreiche synthetische Wasserlösung beklagt hatten, war sie zutiefst erschrocken. Sie hatte nichts von den Larven gewusst. Hätte sie, dann hätte sie diese Chemikalienmischung nie eingesetzt.
Sie hätte sich gegen jeglichen Einsatz von Chemikalien ausgesprochen.
Aber sie hatte es nicht gewusst. Es war ein Unglücksfall gewesen – ein verständlicher Unglücksfall, soweit es sie betraf. Sie war nie zuvor auf Gyonne gewesen; sie hatte nicht gewusst, wie Gyonnese aussahen, ganz zu schweigen davon, wie sie über ihre Kinder dachten oder mit ihnen umgingen.
Sie hatte nichts von den Larven und den »wahren« Kindern und der Bedeutung der Erblinie gewusst. Damals nicht.
Und hätte sie, dann hätte sie auch Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.
Aber sie hatte sich nie als
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