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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stollfuß
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langen Haaren, der lebt zwei Kilometer von hier entfernt. Du musst nicht durch den Wald. Geh einfach immer die Gleise entlang, das erste Haus ist das von deinem Freund.«
    Von einem anderen in der Schlange erfuhr ich dann das grausame Schicksal des Dorfes Borodino, das nun nur durch die Anwesenheit von Georg und ein paar alten Witwen überhaupt noch existierte. Früher war es ein ganz normales Dorf mit zwei Dutzend Häusern gewesen. Die Frauen hatten Milchwirtschaft betrieben, die Männer Pilze gesammelt und Schnaps gebrannt. Bis eines Tages eine Eisenbahnstrecke durch Borodino verlegt wurde. Die Gleise brachten große Unruhe mit sich und stürzten das Dorf ins Verderben. Zuerst holte sich die Bahn die Männer. Einer nach dem anderen gingen sie besoffen an die Gleise, schliefen ein und wurden vom Zug überfahren. Danach lockten die fahrenden Züge auch noch fast alle Kühe in den Tod. Innerhalb von drei Jahren waren die meisten Frauen des Dorfes Witwen geworden. Die übrig gebliebenen Kühe gaben keine Milch mehr und wurden geschlachtet. Viele Leute zogen weg. Der letzte Mann des Dorfes litt unter der Wahnvorstellung, dass der Zug auch ihn eines Tages erwischen würde. Er zündete im Suff sein Haus an und kam in den Flammen um. Als Georg dort aufkreuzte, war Borodino quasi schon nicht mehr vorhanden. Nun ging es plötzlich doch wieder aufwärts.
    »Der Junge hat echt was drauf«, sagten die Männer in der Schlange. Ich rauchte mit ihnen eine Schachtel Zigaretten aus meinen Reisevorräten und machte mich auf den Weg
    Selbst zwischen den Gleisen sah man die Fruchtbarkeit dieses Bodens, hier wuchsen im Gras jede Menge Butterpilze und Pfifferlinge. Bald kam ich an ein allein stehendes Haus, das allem Anschein nach Georg gehörte. Überall im Hof wuchs Unkraut, keine Spur von Gartenarbeit. Die Tür war offen, mein Freund schlief. Auf dem Fußboden standen leere und halb volle Schnapsflaschen. Sogar Jim Morrison auf einem Poster sah so aus, als käme er geradewegs aus der Schnapsschlange in Sotino. Die Einrichtung des Raumes war nicht gerade dörflich: In den Ecken stapelten sich Kisten verschiedener Größe, und auf ihnen standen: ein Videorekorder, zwei kleine und ein großer Fernseher, zwei Armeefunkgeräte, ein Karton mit Trockenfisch, ein Karton mit Schokolade und ein riesiger Stapel Weihnachtskalender. Als ich meinen Freund weckte, wunderte er sich keine Sekunde über mein Erscheinen, so als hätten wir uns erst gestern verabschiedet.
    »Gut, dass du da bist«, sagte er, »bald kommen auch noch andere, es wird eine heiße Nacht werden.« Georg nahm einen Schluck aus einer Flasche und berichtete mir, wie er sich im Dorf berühmt gemacht hatte. Ihm war mit seiner Großstadterfahrung die Idee gekommen, wie man die Eisenbahnstrecke für sich nutzen konnte, und dadurch hatte er sie in den Augen der Dorfbevölkerung entmystifiziert. Nun zogen Leute nach Borodino, statt den Ort zu verlassen. Eine neue Wirtschaft war geboren – die Zugwirtschaft. Eigentlich war die Idee einer Zugwirtschaft nichts Neues. Wir hatten alle den DDR-Film gesehen, in dem deutsche Indianer laufend fahrende Züge überfallen und berauben. Neu bei Georg war, dass er die Züge nicht überfiel, sondern den Zugführern einen neuen Service bot: Die Zugführer hatten während der Fahrt Alkoholverbot, und Georg war auf die Idee gekommen, in dem verlassenen Dorf die Destillierapparaturen wieder in Betrieb zu nehmen. Den selbst gebrannten Schnaps tauschte er dann bei der Zugführerbrigade gegen wertvolle Gegenstände ein. Seine Gewinne waren enorm. Wir saßen auf den Kisten, tranken seinen Schnaps, und ich erfuhr Schluck für Schluck, wie reich mein Freund geworden war und was er nun so alles besaß.
    »Die Erde bringt es, mein Freund, das Land und der freie Handel, in Moskau kannst du davon nur träumen.«
    Ich merkte, wie sich der Mann verändert hatte. Er war ein richtiger Bauer geworden, was für mich einem Spießer gleichkam. Georg, mit all seinen Fernsehern, tat mir irgendwie Leid. Inzwischen waren noch zwei Männer aus dem Dorf gekommen, die sich zu uns setzten. Ich erzählte meine letzten Erlebnisse in der Großstadt, und sie hörten zu. Plötzlich ertönte aus dem Wald ein grässlicher Schrei. Mir standen die Haare zu Berge. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas derart Entsetzliches gehört. Abrupt wurde es still.
    »Der Ziegenmelker weint«, sagte Georg zu mir schuldbewusst. »Entschuldige, ich hätte es dir früher sagen sollen. Okay, Männer,

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