Milner Donna
und auf mich zugehen würde? Was würden wir einander sagen? Aber nein, es kann nicht sein.
Dennoch, jedes Mal, wenn der Kopf des Schwimmers nach oben kommt, wenn er Luft holt, bin ich weniger sicher. Das ganze Erscheinungsbild, der Rücken, die langen Arme, das alles gehört zu meinem Exmann. Aber der stets nervöse Mann, mit dem ich neun Jahre verheiratet war, wäre niemals mit solcher Konzentration durch das Wasser geglitten. Er hätte oft innegehalten, um zu sehen, wer zuschaut, um ein schüchternes Lächeln aufscheinen zu lassen, als wollte er sich dafür entschuldigen, dass er da war. Und doch, während ich ihn beobachte, beinahe fasziniert von der diffusen Möglichkeit, bin ich mir nicht sicher. Mir kommt der Gedanke, dass diese Ängstlichkeit, dieser Mangel an Selbstvertrauen vielleicht nur in meiner Gegenwart da waren. Vielleicht ist dies hier der Mann, der er heute ist, jetzt, da ich nicht mehr in seinem Leben bin und drohe, ihn zu verlassen.
Als hätte ich ihn durch meine Gedanken dazu veranlasst, richtet sich der Schwimmer mitten in einer Runde auf. Er nimmt seine Brille herunter, wischt sich mit einer Hand über das Gesicht und schüttelt das Wasser ab. Er sieht mich an, dann durch mich hindurch. Ich habe im Leben dieses Fremden nicht mehr Bedeutung als er in meinem. Jetzt sehe ich nicht einmal mehr, was an ihm mich an Ken – den ich seit über fünfzehn Jahren nicht gesehen habe – erinnert hat.
Es ist noch nicht lange her, da hat Vern mich darauf aufmerksam gemacht, dass mein Durchhaltevermögen pro Ehe zehn Jahre zu betragen scheint. Wir waren in unserem Keller und bereiteten einen Hofflohmarkt vor, als er diese Feststellung traf. Ich blickte von dem Karton auf, den ich gerade mit Büchern füllte. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte ich ihn.
»Nur so ein Gedanke«, antwortete er, während er eines meiner Fotoalben zuklappte und ins Regal zurückstellte.
»Da hast du vielleicht recht«, erwiderte ich, »das ist ungefähr die Zeit, die es dauert, bis man die Grenze erreicht.«
»Welche Grenze?«
»Jede Beziehung hat eine Grenze. Wenn man sie überschreitet, beginnt die Liebe abzukühlen.«
Vern hob eine Augenbraue. »Und was ist mit der bedingungslosen Liebe?«
»Es gibt sie, natürlich, bis man eben diese Grenze überschreitet.«
»Ich habe keine Grenze, Natalie.«
»Jeder hat eine Grenze. Für manche sind die Grenzen nur enger gezogen als für andere.«
Ich fand die Grenze meiner Familie, als ich siebzehn war.
Zwei Rucksacktouristen unterbrechen meine Grübeleien. Sie lassen ihr Gepäck auf den Boden neben dem nächsten Klapptisch fallen. Der junge Mann setzt sich und lehnt sich nach hinten, gegen die Tischplatte, Dreadlocks, Nasenring, Ohrringe und alles, was dazugehört. Er streckt die Beine aus und hält das Gesicht in die Herbstsonne. Seine Begleiterin, die eine Drillichjacke der Armee und Schlabberhosen trägt, macht es ihm nach. Die Uniform der rebellischen Jugend. Sie glauben, das sei neu.
Das Mädchen wirft einen Blick auf den Zeitungsstand und schüttelt den Kopf. »Genau das Gleiche wie in Vietnam«, sagt sie.
Ich betrachte die Gesichter der beiden amerikanischen Soldaten auf der Titelseite der Vancouver Sun und frage mich traurig, wann die Toten dieses Krieges aufhören werden, Namen zu haben, und Teil der Statistik werden.
Während die beiden Rucksacktouristen über Amerikas Engagement im Irak debattieren – einem anderen Krieg, der auf Lügen basiert –, möchte ich ihnen sagen, dass es doch nicht ganz das Gleiche ist, denn die Soldaten, die im Irak und in Afghanistan dienen, sind Berufssoldaten. Sie mussten sich nicht zwischen dem bewaffneten Kampf und der Flucht aus ihrem Land entscheiden. Bis jetzt.
Und dass die Freiheit zu wählen zum großen Teil jungen Männern wie River Jordan zu verdanken ist, die damals das System herausforderten. Die Welt hat sich geändert. Und es fällt schwerer, an dem allzu schlichten Glauben der Sechzigerjahre festzuhalten, dass es »dann, wenn es keine Soldaten gibt, auch keine Kriege mehr geben wird«.
20
W IDRIGE W INDE WEHEN oft Gutes heran«, sagte Mom gern. Aber ich frage mich, wie sie wohl die Winde genannt hätte, die River Jordan in unser Leben wehten.
»Entrüstungsstürme« nannte River die Protestwellen, die über die Universitäten und Colleges der USA schwappten. Er erzählte uns, dass für ihn diese Winde im Jahr zuvor in Washington, D.C., aufgekommen waren.
»Am 2. November 1965«, erzählte er,
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