Milner Donna
immer eurem Vater gehört.«
Boyer und Morgan blieben regungslos stehen, unsicher, was sie tun sollten.
»Steht nicht so da und glotzt.« Sie trat auf den Spaten und stieß ihn in die Erde. »Entweder ihr schnappt euch eine Schaufel und helft«, schnauzte sie. »Oder ihr verschwindet.«
Dass Carl vom Fenster zurücktrat und aus dem Zimmer ging, fühlte ich eher, als dass ich es sah. Ich war unfähig, mich wegzubewegen.
Den Rest des Tages saß ich, in meinen Quilt gemummelt, auf der Fensterbank und sah Mom und meinen Brüdern zu, wie sie den Garten zerstörten. Sie warfen eine Schubkarrenladung nach der anderen neben den Komposthaufen. Nachdem Mom die letzten Reste der pastell- und blutroten Blütenblätter zusammengerecht hatte, nahm sie Dads silbernes Zippo-Feuerzeug aus seiner Jackentasche und hielt es an die trockenen Zweige. Die Luft füllte sich mit dem Geruch beißenden Qualms, vermischt mit dem Duft frisch umgegrabener Erde und dem Wohlgeruch zerdrückter Blütenblätter.
Mom stand, gegen ihren Rechen gelehnt, da und blickte in das schwelende Feuer. »Pfingstrosen, das sind schöne, freundliche Pflanzen«, hörte ich sie sagen. »Im Frühjahr pflanzen wir Pfingstrosen. Die beißen nicht zurück.«
26
Nettie
G US’ G ESICHT ZERFLIEßT VOR IHR. Sie hebt einen ihrer bleischweren Arme und streckt ihn aus, um Gus zu berühren. Ihre Augen öffnen sich. Sie versucht, ihren Blick zu schärfen, den Raum nach ihm abzusuchen. Aber das Zimmer ist leer. Krankenhausleer.
»Ich komme, Gus«, flüstert sie.
Aber der Tod will erst mal Feierabend machen. Sie kämpft gegen das schwarze Gespenst an, will sich nicht schon beim ersten Angriff ergeben. Sie hustet, krallt sich am Betttuch fest. Jetzt ist er nahe genug, um ihr Versprechungen zuzuwispern. Sie willigt ein, seine Hand zu ergreifen, begrüßt ihn als vertrauten Freund. Aber zuvor – zuvor muss sie noch etwas erledigen. Was war das noch?
Natalies Name kommt ihr auf die Lippen. Wo ist Natalie? Es gibt etwas, was sie ihr sagen muss. Es ist mehr als ein Abschiedswort. Aber was?
Sie hört das Summen von Geräten, die gedämpften Stimmen der Schwestern auf dem Gang, den mühsamen Atem von irgendjemandem im Zimmer. Nein, er gehört ihr selbst. Die Wirkung des Morphiums lässt nach.
Das Nachmittagslicht wird schwächer. Die Nacht bricht an. Es ist nicht der Schmerz, den sie nicht ertragen will, es ist die Nacht. Die Nacht ist nie ihre Freundin gewesen.
Sie spürt, wie der Schmerz durch ihren verbrauchten Körper kriecht. Sie setzt ihm keinen Widerstand entgegen; sie hält das Stöhnen zurück; sie will nicht, dass die Krankenschwester hereinkommt; sie öffnet und schließt die Hände, die einzigen Teile ihres Körpers, die sie jetzt ohne Schmerzen bewegen kann. Sie möchte ihren Kopf frei räumen, fähig sein zu denken, ihren Weg zurück zu den Erinnerungen finden.
Sie schließt die Augen auf der Suche nach Bildern von sommerlichen Feldern, gelb vom trocknenden Heu. Von Wintertagen, strahlend vom Lachen ihrer Kinder und von den Schlittenglöckchen, die am Pferdegeschirr bimmeln. Sie möchte Gemälde heraufbeschwören, die der Herbst auf die bewaldeten Hänge über ihrem Haus gepinselt hat. Sie konzentriert sich, bis sie sich zum Weiteratmen ermahnen muss.
Und der Frühling erst! Sie sehnt sich nach Frühlingsbildern. Sie sieht flauschige gelbe Küken, auf wackeligen Beinen stehende Kälbchen, ein neu geborenes Fohlen unter dem Bauch einer Stute. Sie lächelt bei der Erinnerung an die Gesichter ihrer Kinder, die noch jung genug waren, um angesichts dieser Wunder ebenso von Ehrfurcht ergriffen zu sein wie sie selbst.
Sie lässt die Erinnerungen fließen, frei vom Morphiumnebel. Ihre Augen öffnen sich, um durch das Fenster den dunkelnden Himmel zu betrachten. Und sie erinnert sich plötzlich an längst vergangene Nächte und erschaudert.
Nur während der Nächte verlor sie die Orientierung. Nur wenn sie im Dunkeln neben dem schnarchenden Gus lag, verfiel sie ins Grübeln. Sie wollte versuchen, ihre Gedanken in ganzen Listen von Routinearbeiten, Speisezetteln und Gebeten zu ertränken. Doch schließlich griff sie nach dem Buch, das immer auf ihrem Nachttisch bereitlag, und verließ ihr Bett.
Manchmal glaubte sie, das Lesen sei ihr Fluch. War es nicht besser, wie Gus niemals im Leben einen Roman gelesen zu haben, nicht zu wissen, was ihr fehlte, die Alternativen nicht zu kennen? Sie war sich sicher, dass Gus sein gesamtes Wissen über Sex aus seiner
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