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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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schmiegen – wie ich es als Kind getan hatte – und in das hineinsinken, was für mich die Liebe, das Angenommensein, ja das Daheimsein bedeutete. Aber ich konnte nicht. Nicht einmal in diesem Augenblick des gemeinsamen Kummers konnte ich meinen Groll loslassen. Den unausgesprochenen Groll, den ich jeden Tag mit mir herumtrug wie ein Tier, das sich an meinen Rücken krallte und nicht von mir weichen würde, weil ich es herzte, es streichelte und mich in der perversen Wonne badete, zuzulassen, dass es sich immer weiter an mich anklammerte.
    »Es tut mir so leid, Mom«, hörte ich mich sagen.
    »Pst, mein Liebes. Es gibt nichts, was dir leid tun müsste.« Sie sagte es, als glaubte sie, ich würde mich entschuldigen.
    Es tut mir leid . Das sagt man doch, so zur Begrüßung, wenn jemand gestorben ist. Sie konnte diese Worte nicht wegwischen, als wären sie eine unerwünschte Entschuldigung. Wofür glaubte sie denn, dass ich mich entschuldigte? Was sollte mir leid tun, und warum? Und was meinte sie mit: »Es gibt nichts, was dir leid tun müsste?« Und ob es das gab! Es tat mir leid, dass mein Vater tot war. Es tat mir leid, dass der Mann, der neunundzwanzig Jahre ihr Ehemann gewesen war, tot war. Wegen der Art, wie er starb. Es tat mir leid, dass ich nicht da war, dass ich ihn seit mehr als zwei Jahren nicht gesehen hatte. Leid, dass ich niemals mehr die Gelegenheit haben würde, mit ihm zusammen zu sein, mit ihm zu reden. Und es tat mir leid, dass ich keine Gelegenheit mehr haben würde, ihm zu sagen, dass ich ihn liebte.
    Und es tat mir leid, dass unsere Familie nun noch kaputter war.
    Mom streckte die Hand nach oben und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen. Sie zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und drückte es sich gegen die Nase. Nach drei kurzen Niesern straffte sie die Schultern. »Schau dir bloß all diese Sachen an.« Sie deutete auf den Tisch und die Abstellflächen. Jeder verfügbare Platz war mit Kasserollen, Kuchen und Torten bedeckt. »Rauchopfer«, sagte sie und verzog dann wegen ihres unbedachten Worts das Gesicht. »Was soll ich mit dem ganzen Zeug anfangen?«
    »Du wirst bestimmt dafür sorgen, dass alles aufgegessen wird.« Boyers Stimme kam aus der Tür zum Salon. Ich hatte ihn durch den Schleier der Tränen, die ich nicht wahrhaben wollte, nicht gesehen. Ich vermied es, ihn anzusehen, so wie ich es vermieden hatte, mir auszumalen, was ich tun würde, wenn dieser Augenblick eintreten sollte.
    »Hallo, Boyer«, sagte ich. »Schön, dich zu sehen.« Aber das war eine Lüge. »Ich bin wirklich müde, Mom«, sagte ich. »Ich würde mich gern für eine Stunde hinlegen.«
    »Natürlich, mein Liebes«, sagte sie. »Geh hinauf in dein Zimmer. Es ist noch genau so, wie du es verlassen hast.«
    »Die Totenwache beginnt heute Abend um sieben«, sagte Boyer mit müder Resignation in der Stimme. »Wir sollten um halb sieben Richtung Stadt aufbrechen.«
    Er zog sich in den Salon zurück. Aus dem Wohnzimmer heraus hörte ich das Gemurmel gedämpfter Stimmen und fragte mich, welche Nachbarn, welche Freunde, die den Wards noch verblieben waren, dort wohl versammelt waren. Von der Familie würde niemand mehr kommen. Wir waren vollzählig: Mom, Boyer, Morgan und Carl. Und ich. Unsere Familie – so, wie sie war.
    Ich schlief in meinem Zimmer, das, wie Mom gesagt hatte, genau so war, wie ich es verlassen hatte. Meine Bücher noch auf dem Brett über dem Bett aufgereiht. Die Patchworkdecke, die sie mir zu meinem zehnten Geburtstag angefertigt hatte, lag auf dem Bett, frisch, sauber und einladend. Meine gestrickten Puschen warteten unter dem Bett, zusammen mit den Schachteln voller Murmeln. Alles genau dort, wo ich es zurückgelassen hatte. Das Familienfoto, aufgenommen vier Jahre bevor ich wegzog, stand noch auf meinem Schreibtisch. Ein Einweckglas voller Pennys und silberner Zehncentstücke zwischen den Kupfermünzen stand daneben. Das Zimmer sah aus wie das eines toten Kindes. Was es auch war.
    »Natalie?« Ich wachte beim leisen Klopfen an meiner Tür auf und hörte meinen Namen rufen.
    In der Dunkelheit des Spätnachmittags dauerte es einen Augenblick, bis ich begriff, wo ich war. Ich schaltete die Bettlampe ein. Die Tür ging auf, und Carl beugte sich herein.
    Der wunderbare Carl mit seinem lieben Gesicht. Er war der Erste, der vor mir weinte. Er setzte sich auf mein Bett und schlang die Arme um mich. »Ich habe dich vermisst, du Fratz«, neckte er. »Und den alten

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