Milner Donna
wirft mir einen Blick zu und konzentriert sich dann wieder auf die Straße. »Wer war er? Erzähl mir, was mit ihm passiert ist – was zwischen dir und Onkel Boyer passiert ist.«
Das war’s also. Darüber wollte sie mit mir sprechen. Ich habe immer gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde.
Und ich habe gewusst, dass ich dann, wenn ich Jenny meine Version unserer Familiengeschichte erzählen würde, vor jenem Sommer beginnen müsste, als ich sechzehn wurde. Ich muss ihr davon erzählen, wer und was unsere Familie war, bevor alles passiert ist. Sie soll verstehen, wie viel verloren gegangen ist – und wie viel zurückgelassen wurde.
Trotzdem fühle ich mich von ihrer Frage überrumpelt und bin nicht bereit, alles laut auszusprechen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass ich eines Tages schriftlich berichten würde. Es wäre so viel einfacher, als zu bemerken, wie die Wahrheit meine Stimme ins Stocken bringt. Aber jetzt? Jetzt bin ich nicht bereit. Nicht, während meine Mutter im Sterben liegt. Ich kann mich nicht gleichzeitig mit diesen beiden Traumen auseinandersetzen, und das sage ich Jenny.
»Aber jetzt ist es so weit«, entgegnet sie mit fester, aber freundlicher Stimme. »Jetzt, solange Grammie noch bei uns ist.«
»Woher weißt du überhaupt von River?«, frage ich schließlich. Na bitte, jetzt habe ich seinen Namen selbst ausgesprochen. Ich habe ihn in das kleine Universum entlassen, das wir im Inneren dieses Autos bewohnen, wo er immer noch gegenwärtig ist, in Gestalt des Friedenszeichens aus Holz, das vom Rückspiegel herunterhängt.
»Gram«, sagt sie. »Sie hat im Delirium ein paar ziemlich merkwürdige Dinge gesagt. Und darüber habe ich mich mit Onkel Boyer unterhalten. Er hat gesagt, dass ich dich fragen müsste, wenn ich mehr wissen wolle.«
Ich fröstele, aber nicht vor Kälte.
Ich erinnere mich, wie auf meinen Reisen nach Hause die Phantasie mit mir durchging und ich mir ausmalte, dass der Bus außer Kontrolle geraten, von einer der Haarnadelkurven abkommen und in den steilen Abgrund stürzen könnte. Diese Vision, der Gedanke an ein gewaltsames Ende auf dem überwucherten Waldboden, war damals nicht ohne morbiden Reiz für mich. Alles wäre außerhalb meiner Kontrolle – nicht meine Schuld, dass ich es nicht bis nach Atwood schaffen konnte. Ich müsste mich nicht mit der Realität meiner Vergangenheit befassen.
Jennys Fragen lösen gemischte Gefühle aus. Wäre es eine Erleichterung, sich endlich von diesen Geheimnissen zu befreien? Der einzige andere Mensch, dem gegenüber ich je diese Versuchung verspürt habe, ist Vern.
Von Anfang an haben Vern und ich dem Drang widerstanden, das »Sag-mir-etwas-was-du-noch-nie-jemandem-gesagt-hast«-Spiel zu spielen, das alle Frischverliebten zu spielen scheinen. Der wahre Grund, warum ich meine Vergangenheit nicht mit ihm teile, warum ich vermeide, ihn in das Haus meiner Kindheit zu bringen, wird mir plötzlich klar: Ich will nicht, dass er sieht, zu welch großer Zerstörung ich fähig bin.
Jetzt frage ich mich, wie viel von der Wahrheit eine Tochter über ihre Mutter erfahren sollte. Wie viel weiß Jenny bereits? Was haben Mom und Boyer ihr erzählt? Haben sie ihr etwas über diese längst vergangene Sommernacht erzählt?
Nein, unmöglich. Sie waren ja nicht da.
28
N IEMAND WAR IN DIESER N ACHT zu Hause außer mir. Und in dem Zimmer über der Molkerei: River.
8. Juni 1968. Das Datum lässt sich leicht merken, weil zwei Tage zuvor Robert Kennedy gestorben war. Es war das einzige Mal, dass ich River weinen sah. Am Donnerstagabend saß er mit Dad und Boyer vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Tränen rollten über seine Wangen, als in den Nachrichten das Bild des mit dem Tode ringenden Senators gezeigt wurde.
»Wir haben so gehofft, dass er diesen Krieg beenden würde«, sagte River mit kaum hörbarer Stimme, als er sich aus dem Zimmer zurückzog.
Am Samstagnachmittag fuhr Boyer im Auftrag der Schulbehörde nach Kelowna, um einen neu gelieferten Schulbus in Betrieb zu nehmen. Er würde in Kelowna übernachten und den Bus am Sonntagmorgen nach Atwood bringen. Morgan begleitete ihn, um sein Auto nach Hause zu fahren. Carl war natürlich nicht bereit, Morgan allein »den Duft der großen weiten Welt« schnuppern zu lassen. Alle drei würden am nächsten Tag zurück sein.
Dieser Samstagabend fiel von Anfang an aus dem Rahmen. So befanden sich in unserem Haus keine Jugendlichen aus der Stadt. Nicht einmal Elizabeth-Ann. Na ja,
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