Milner Donna
ertastete ich mir den Weg durch mein Zimmer bis zum Bett.
Selbst als Kind hielt die Dunkelheit keine Schrecken für mich bereit. Kein Butzemann oder sonstiger Kinderschreck lauerte jemals in meinen Schränken. Nie blickte ich über die Schulter, um nachzusehen, was sich im Finstern versteckte. Sonst hätte ich vielleicht verstohlen um mich geblickt oder besser aufgepasst. Vielleicht hätte ich sogar die Augen gespürt, die mir folgten, während ich über den Hof ging. Und vielleicht hätte ich sie dort gesehen – meine Mutter, die unter der Molkereitreppe stand.
30
Nettie
S ELBST IN IHREN T RÄUMEN verfolgt sie der Geruch; der schwere Duft zieht in ihren Schlaf hinein, sickert durch ihren Körper. In ihrem Magen – durch die erfolglose Chemotherapie so sehr an den von Übelkeit verursachten Aufruhr gewöhnt – tut es jetzt, als er eindringt, einen Ruck.
Netties Augen sind offen. Sie dreht sich zum Schlafzimmerfenster, aber keine Spitzenvorhänge bauschen sich in der Brise.
Ihre Augen suchen das verdunkelte Krankenhauszimmer nach den aggressiven Blumen ab. Haben sie vergessen, dass sie keine Blumen im Zimmer haben will? Vor allem keine Rosen. Und es sind auch keine da.
Sie kann dem durchdringenden Geruch nicht entkommen. Sie kann nicht aufstehen und ihr Bett verlassen, wie sie es in längst vergangenen Nächten zu Hause getan hat, wenn sie im Finstern lag, sich leer und benutzt fühlte und versuchte, die Stimmen zum Schweigen zu bringen, die ihr im Kopf herumschwirrten. All diese Nächte vermischen sich in ihrer Erinnerung. Bis auf eine. Die Erinnerung an eine Juninacht bleibt ungetrübt.
Gus hatte darauf bestanden, dass sie früher nach Hause fuhren. Er befürchtete, dass ein Blitz die Stromleitung lahmlegen könnte, wie es so oft bei einem Sommergewitter geschah. Er musste dort sein, um den Benzingenerator für den Kühler anzuwerfen. Deshalb fuhren sie noch vor dem üblichen Mitternachtsimbiss bei Dr. Mumford los.
Die Raserei des Gewitters hatte sich zu der Zeit, als sie in den Hof einbogen, bereits gelegt. Nettie bemerkte das Kerzengeflacker im Zimmer über der Molkerei, aber das Hoflicht und die Küchenlampen im Farmhaus brannten.
»Kein Stromausfall«, sagte Gus erleichtert, als sie sich auf den Weg hinauf zum Haus machten.
Nettie hob einen Wäschekorb neben der Fliegengittertür hoch. Sie musste lächeln. Sie konnte sich eben immer auf ihre Tochter verlassen. Sie hielt nicht inne, um sich zu fragen, warum die Körbe draußen auf der Veranda standen oder warum Natalies Bücher in der Küche noch auf dem Tisch lagen.
Gus schaltete die Lampen aus, während er ihr durch die Küche folgte. »Ich kann mich nicht erinnern, wann das Haus zum letzten Mal in einer Nacht von Samstag auf Sonntag derart leer war«, sagte er. Er ergriff ihre Hand, bevor sie bei der Schlafzimmertür ankamen. »Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse«, flüsterte er.
In der Stille ihres Zimmers schob er, vor ihren Nachtgebeten, das Schlafzimmerfenster hoch.
»Lass es zu«, sagte Nettie.
»Es ist so stickig hier drin«, gab Gus zur Antwort, schloss aber das Fenster halb, ihr zuliebe. Aber es gab keine Brise, die ins Zimmer hereinwehte und die Vorhänge bauschte.
In ihrem Bett, in der Dunkelheit, streckte er die Hände aus und schob Netties Baumwollnachthemd hoch. In all den Jahren ihrer Ehe hat sie sich ihrem Mann niemals verweigert.
Sie lag da und wartete, bis es zu Ende war.
Danach tätschelte ihr Gus zufrieden die Hüfte – als hätte sie es genauso genossen wie er – und wälzte sich zur Seite.
Nettie vergrub ihr Gesicht im Kopfkissen. Sie versuchte zu schlafen. Als die Dämonen der Nacht übermächtig wurden, stand sie auf. In der Dunkelheit schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und verließ das Zimmer; hinter dem schnarchenden Gus zog sie leise die Tür zu.
Sie glitt durch die Schatten des stillen Hauses. Draußen auf der Veranda protestierte der abgenutzte Korbsessel knarrend, als sie sich hineinsetzte.
Selbst auf der Veranda witterte Netties empfindliche Nase die Rosen. Doch schon bald gewannen die Gerüche der Farm die Oberhand. Sie atmete die betörenden Düfte ein und trennte sie im Geiste voneinander: Da war der strenge Stallgeruch, der den Mänteln entströmte, die neben der Tür hingen; der prickelnd frische Geruch der regennassen Zitterpappeln; und ihr Lieblingsduft, der des Heus.
Immer schwang die Erinnerung daran mit, wie sie, in einem Meer losen Heus liegend, ihren
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