Milner Donna
Wahrheit. Ich habe seine Geste im Laufe der Jahre viele Male abgerufen. Mein Gedächtnis lässt es nicht zu, sie anders zu deuten. Ich sah ihn, wie er mich aufforderte, zu ihm zu kommen.
Ich trug den Wäschekorb in die Veranda, nahm ein Hemd vom Stapel und zog es mir über das Nachthemd. Das Hemd roch nach frischer Luft, nach Zitterpappeln und nach Boyer. Ich wickelte es um mich und hüpfte die Verandastufen hinunter. Der Nachthimmel war jetzt schwarz von rasenden Wolken. Die einzigen Lichter im Hof waren ein gelber Ring von der Glühbirne über der Molkereitür und der Schein im leeren Fenster darüber.
Wenn irgendjemand beobachtet hätte, wie ich über den Hof eilte, wenn irgendeines der viel beschworenen tausend Augen der Nacht aufgepasst hätte, dann hätten sie in meinen Schritten kein Zögern erkennen können. Sie hätten eine Ungeduld gesehen, die mich vorwärtstrieb, als hätte ich an das geglaubt, was ich mir, wie ich jetzt weiß – wie ich damals wusste –, nur eingebildet hatte.
Auf halber Strecke zur Molkerei erhellte ein Blitz die Nacht mit grellem Licht. Dann krachte der Donner durch die Luft, und der Himmel öffnete sich, als hätte der Knall die dicken schwarzen Wolken aufgeschlitzt. Eine Sintflut ergoss sich über mich. Bis ich den Fuß der Treppe seitlich der Molkerei erreichte, war ich so nass, als wäre ich dorthin geschwommen.
Schwache Klänge von Gitarrenmusik kamen aus Rivers Zimmer. Ich musste zweimal klopfen, bevor das leise Klimpern aufhörte und die Tür aufging. River stand im gedämpften Licht da, nur mit abgeschnittenen Jeans bekleidet. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet eher Neugierde als Erstaunen, als versuchte er, seinen Blick zu schärfen, um zu erkennen, wer dieses halb ertrunkene Wesen vor seiner Tür sein könnte. Dann rief er verdutzt aus: »Natalie! Menschenskind, bist du aber nass!« Er führte mich herein und forderte mich auf, mich auf das Bett zu setzen. Er verschwand im Badezimmer, kehrte mit einem Handtuch zurück und fing an, mir den Kopf zu rubbeln.
Drei dicke Kerzen brannten auf dem Nachttisch neben dem Bett und tauchten den Raum in ein mildes orangefarbenes Licht. Die Luft roch nach schmelzendem Wachs und süßlichem Rauch. Der Kitzel, mit River allein zu sein, der Druck seiner Finger durch das Handtuch, das Kribbeln auf meiner Kopfhaut, all das fühlte sich belebend an und machte mich kühn.
»Kann ich etwas davon probieren?«, fragte ich, als er mir das Tuch um die Schultern legte. Ich zeigte mit dem Kinn auf die dünne Zigarette, die in einem Aschenbecher auf seinem Gitarrenkoffer lag.
»Oh nein«, lachte River. »Das habe ich deinem Vater versprochen. Nichts von meinem Wacky-Tabaki, wie er das nennt, an einen von seiner Familie.« Er streckte den Arm aus, zerdrückte die Spitze der Marihuanakippe und löschte den winzigen Glutball.
Wir saßen zusammen auf dem eisernen Bettgestell, Kissen hinter unserem Rücken so aufgetürmt, dass wir durch das Panoramafenster am anderen Ende des Zimmers dem Gewitterschauspiel zusehen konnten. Draußen steigerte sich der Wind unterdessen in eine Raserei hinein. Das Unwetter isolierte uns, sintflutartiger Regen prasselte auf das Blechdach. Alle paar Minuten zuckte ein Blitz auf und beleuchtete das mit schweren schwarzen Wolken überzogene Firmament.
Es war irgendwie magisch, überirdisch, mit River zusammen in einem Gewitter festzusitzen. Es war leicht zu glauben, dass die Welt weit weg war, so, als existierten nur wir beide, während die Natur um uns herum tobte.
Ich zupfte an den Fäden der Patchworkdecke meiner Großmutter und tat so, als wäre nichts Ungewöhnliches daran, dass ich im Nachthemd neben River saß, während sein nackter Oberkörper den goldenen Schein des Kerzenlichts reflektierte.
Aber innerlich war ich schwach vor Erregung und überlegte, ob er wohl mein Herz pochen hörte.
Nach einer Weile nahm er seine Gitarre vom Fußende und begann sein schwermütiges Geklimper.
Zu behaupten, dass ich verführt wurde, um das, was dann folgte, zu entschuldigen – diesen Luxus kann ich mir nicht leisten. Es ist schwer zu erklären, wie ein junges Mädchen, das in Sachen Sex so naiv war wie ich, die Verführerin sein konnte, aber genau das war der Fall. Bis zu jener Nacht bestand – im Gegensatz zu dem, was ich in Büchern gelesen hatte – meine einzige Erfahrung mit dem anderen Geschlecht aus den peinlichen Küssen im Zuge der Flaschendrehspiele, die wir im Schein der Lagerfeuer draußen beim
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