Milner Donna
als ich schon durch die Straßen von Atwood rannte, wusste ich, dass ich nach Hause hätte gehen können – sollen. Ich hätte mich in mein Bett verkriechen, mir die Decke über den Kopf ziehen und die Verwirrung, die Kränkung und die Wut herausschluchzen sollen, bis ich zur Besinnung gekommen wäre und die Wahrheit begriffen und akzeptiert hätte.
Stattdessen stand ich schließlich keuchend auf der Veranda der einzigen Freundin, an die ich mich, wie ich glaubte, wenden konnte.
Elizabeth-Ann öffnete auf mein Klopfen hin die Tür. »Natalie! Was ist los?«, rief sie.
Ich machte den Mund auf, aber kein Wort kam heraus. Und in diesem Augenblick, in dieser Tausendstelsekunde, fragte ich mich und frage mich seither immer noch, was ich dort verloren hatte.
Ich begann zurückzuweichen, während meine Augen verzweifelt nach irgendwelchen Hinweisen auf Mr. Ryans Anwesenheit suchten.
Doch als Elizabeth-Ann mich in den Vorraum und dann die Treppen hinauf in ihr Zimmer zog, ließ ich sie gewähren.
Sie schloss die Schlafzimmertür hinter uns zu und führte mich zu ihrem Himmelbett. In dem rosafarbenen Licht, das unter dem rüschengesäumten Lampenschirm hervorschien, sah ich, dass Elizabeth-Ann ehrlich besorgt war.
Meine Freundin, meine beste Freundin, hielt meine Hände und fragte mit gedämpfter Stimme: »Was ist los, Natalie?«
»Boyer«, schluchzte ich und schnappte nach Luft, »Boyer und River!«
»Boyer?« Die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ist Boyer etwas zugestoßen?«
Und ohne nachzudenken, würgte ich die ganze Geschichte heraus. Ein Liebespaar! Mein Gott! Boyer und River waren ein Liebespaar!
Elizabeth-Ann schwieg, während ich mich mit meinem Schwall von unzusammenhängenden Worten für immer zur Verräterin machte. Endlich bemerkte ich, wie sich der Gesichtsausdruck meiner Freundin änderte, und begriff, dass sie sich bemühte, ein Lächeln zu unterdrücken. Ein Lächeln!
Sie sah über mich hinweg, durch mich hindurch. »Ahaaaaa«, sagte sie und dehnte das Wort, bis die Erkenntnis sich gesetzt hatte. »Aha! Das ist es also. Deswegen also.«
»Was? Was ist also?«, stammelte ich, und mir dämmerte bereits, dass ich etwas freigesetzt hatte, was nie wieder zurückgeholt werden konnte.
»Kein Wunder, dass er sich nicht für mich interessiert. Er ist andersrum!« Sie spuckte das Wort aus, das ich selbst nicht einmal zu denken gewagt hatte. Sie kniff die Augen zusammen, und das süffisante Grinsen, das ich nur zu gut kannte, hatte sich jetzt über ihr ganzes Gesicht gelegt.
»Ach, du arme Natalie«, sagte sie, und ihre Stimme klang eine Spur zu süß. Sie zog ihre Hände aus meinen und wischte sie an ihrem Rock ab.
Und so, im Handumdrehen, war ich wieder die »arme Natalie«, die Farmerstochter, »Nat die Milchkuh«.
»Andersrum!« Elizabeth-Ann kicherte, presste sich die Hand auf den Mund. Das Kichern ging in ein Lachen über, das mir, wie ich mir vorstellte, folgte, als ich die Treppen hinunter, aus der Haustür hinaus und auf die Straße rannte.
Ich floh durch die Straßen der Stadt. Es gab nichts, wohin ich hätte laufen können. Bis auf zu Hause. Ich eilte denselben Weg aus Atwood zurück. Am Ende der Main Street bog ich nach Süden ab, als plötzlich das Licht von Scheinwerfern lange Schatten auf die Straße vor mir warf. Das Auto näherte sich langsam von hinten. Ich beschleunigte mein Tempo, als der schwarze Lincoln neben mir herfuhr und das Fenster am Beifahrersitz nach unten surrte.
»Lass mich dich nach Hause fahren, Natalie!«, rief die bekannte Stimme, während das Auto mit mir Schritt hielt. Mr. Ryan beugte sich vom Fahrersitz herüber, um mit der einen Hand die Beifahrertür zu öffnen, während er mit der anderen das Lenkrad festhielt.
»Es ist in Ordnung. Ich möchte zu Fuß gehen«, sagte ich und rannte weiter, geradeaus starrend.
»Sei doch nicht dumm«, erwiderte er. »Steig ein, und ich bringe dich in ein paar Minuten nach Hause.«
Ich tat, als hätte ich nichts gehört, in der Hoffnung, er würde es aufgeben.
Aber der Wagen rollte weiter neben mir her. »Ich kann dich doch nicht in der Dunkelheit allein nach Hause gehen lassen«, rief er. »Besonders nicht, solange du so aufgewühlt bist.« Als ich keine Antwort gab, sagte er: »Natalie, ich habe gehört, was du Elizabeth-Ann erzählt hast.« Er wartete die Wirkung seiner Worte ab und polterte dann los: »Jetzt stell dir mal vor, was passiert, wenn das den falschen Leuten zu Ohren kommt! Denkst du vielleicht
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