Milner Donna
Absolution eines vergebenden Gottes erteilen würde. Meine Buße würde darin bestehen, dieses hässliche Geheimnis zu tragen.
Und selbst nach all diesen Jahren kann ich es immer noch nicht meiner Tochter erzählen.
»Mom?« Jennys Stimme ruft mich zurück. »Mom. Wir sind da.«
Ich sehe mich um. Während ich in meinen düsteren Erinnerungen versunken war, haben wir die Stadt erreicht und sind durch eine stille Main Street den Krankenhausberg hinaufgefahren. Wir parken den Wagen in der kreisförmig angelegten Auffahrt vor dem Alpine Inn.
Das Alpine Inn. So ein lächerlicher Name für dieses majestätische zweistöckige Gebäude aus Ziegel- und Steinmauerwerk. Bestimmt hätte ihnen etwas Originelleres, etwas für diesen Ort Passenderes einfallen können, der früher Our Lady of Compassion war, die Mädchenschule. Seit Jahren ist es nun schon eine Frühstückspension. Die Schlafsäle, in denen einst die allzu jungen werdenden Mütter untergebracht waren, sind in eine Reihe separater Zimmer aufgeteilt worden, von denen jedes mit dem rustikalen Charme von Paisley- und Ginganstoffen dekoriert ist. Der überdachte Weg, der früher zum Krankenhaus führte, ist verschwunden. Die abschirmenden Hecken gibt es auch nicht mehr. Bis auf die Ranken des wilden Weins, die bis zu den oberen Ecken hinaufreichen, steht das Haus blank und bloß der Straße zugewandt da, denn es braucht seine Existenz nicht mehr vor der Welt zu verstecken.
Daneben erhebt sich das Krankenhaus, äußerlich unverändert. Doch drinnen gibt es keine Nonnen mehr, die mit wortloser Effizienz durch die Gänge schweben. Es gibt keine Wöchnerinnenstation und keine chirurgische Abteilung mehr. Dank der von der Regierung durchgeführten Zentralisierung des Gesundheitswesens besteht das Krankenhaus heute zum größten Teil aus Büros und Sprechzimmern, einer Pflegeabteilung und einer Notaufnahme. Es ist nicht viel mehr als ein Außenposten mit einem Erstversorgungsangebot.
Ich blicke hinauf zu den Fenstern im dritten Stock, wo meine Mutter schläft. Mein Herzschlag stockt. Plötzlich will ich nichts anderes mehr, als sie zu sehen. Bis jetzt ist es mir gelungen, die quälenden Gedanken zu verdrängen, dass ich es nicht rechtzeitig schaffen könnte, dass es zu spät sein könnte. Jetzt muss ich sie sehen, sie berühren, mich vergewissern.
»Ich will hinauf und Mom sehen, bevor ich einchecke«, sage ich. »Glaubst du, wir können so spät noch hinein?«
»Es gibt eine Nachtglocke«, antwortet Jenny. »Ich habe die Schwester schon vorgewarnt, dass wir kommen.«
Wir überqueren den Rasen, der die beiden Gebäude voneinander trennt. »Mir wäre es lieb, wenn du es dir noch einmal überlegst«, sagt Jenny und nimmt meinen Arm, »und bei mir wohnst.«
»Ich will in der Nähe des Krankenhauses sein. Außerdem habe ich ein Zimmer gebucht. Ich muss das jetzt durchstehen, Jenny.«
Sie schüttelt den Kopf, sagt aber nichts, während wir uns dem Vordereingang des Krankenhauses nähern.
»Und wann werden Morgan, Ruth und Carl eintreffen?«, frage ich, um das Thema zu wechseln.
»Morgen, im Lauf des Tages. Sie übernachten alle draußen auf der Farm bei Boyer und Stanley.«
Boyer und Stanley. Sie spricht diese Namen so einfach aus, als würde sie über ein altes Ehepaar reden. Und das tut sie ja auch. Jenny hat ihren Onkel, seinen Lebensgefährten und seine Homosexualität immer als etwas ebenso Natürliches akzeptiert wie ihre Liebe zu ihm.
Trotzdem frage ich mich, ob sie sich überhaupt vorstellen kann, wie anders das für unsere Generation war. Ist ihr klar, dass Homosexualität in Kanada bis 1969 unter Strafe gestellt war? Wäre sie überrascht zu erfahren, dass ein Kanadier noch 1965 zu Lebenslänglich verurteilt wurde, einfach weil er zugegeben hatte, homosexuell zu sein? Oder dass erst im Juni dieses Jahres, also 2003, ein Beschluss des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten endgültig und vorbehaltlos die Homosexualität in ganz Amerika entkriminalisiert hat?
Im Gegensatz zu Jenny bin ich nicht in einem Zeitalter der Akzeptanz aufgewachsen. Ich musste sie lernen.
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I M GRELLEN L ICHT DES B ADEZIMMERS ließ ich die klauenfüßige Wanne mit heißem Wasser volllaufen. Ich zog mir meine zerfetzten Kleider aus, die niemals ihren Weg in die Schmutzwäsche finden durften, wo die Augen meiner Mutter darin hätten lesen können. Ich schleuderte sie in die Ecke. Ich würde sie in meinem Zimmer unter dem Dachvorsprung verstecken, bis ich eine
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